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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Briefe über einzelne Gegenstände der deutschen Literatur.
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Erlauben Sie. daß ich noch einmal auf das Thema meines vorigen Brie¬
fes zurückkomme, die Schleiennachcrschen Briefe. Die preußischen Jahrbücher
haben darüber einige Bemerkungen gemacht, aus denen mir hervorzugehen
scheint, daß hier noch ein ganz ernsthaftes Mißverständniß zu beseitigen ist.
Dies Mißverständniß bezieht sich nicht bloß auf den einzelnen Fall, sondern
es betrifft--eine allgemeine Frage, die sich in jeder Periode einer sittlichen Kri¬
sis hervordrängt: nämlich das Verhältniß des sittlichen, zum ästhetischen Ge¬
sichtspunkt. - .

Bekanntlich hat die romantische Schule in ihrer Blüthezeit gerade von
dieser Seite her Anstoß gegeben. Sie waren als streitfertige Kritiker den an¬
erkannten Größen der Literatur gegenüber getreten und hatten ziemlich hart
über sie geurtheilt; um sich zu rächen, suchten die Gegner alles Mögliche her¬
vor, was sie in den Augen des Publicums brandmarken konnte. Durch Ro¬
mane, wie "Lucinde," machten ihnen die Romantiker leichtes Spiel, aber um
die damaligen Verhältnisse richtig zu würdigen, muß man sich vergegenwärtigen,
daß zu den Moralisten, welche gegen die Unsitte der neuen Schule predigten,
auch Kohebue gehörte, der Dichter von "Menschenhaß und Reue", und daß
daher die Schlegel, wenn sie jene Vorwürfe mit Zinsen wiedergaben, im voll¬
sten Recht waren. Die Schlegel trugen das Bewußtsein in sich, weder in
ihrem Leben, noch in ihren Schriften unsittlich zu sein, sondern ein neues,
höheres Princip der Sittlichkeit entdeckt zu haben, welches geeignet sei, wenn
nicht die ganze Menschheit, doch wenigstens den edleren Theil derselben tugend¬
haft und glücklich zu machen. Ob sie mit diesem Glauben Recht hatten, das
ist einzig und allein die Frage, auf die es heute ankommt, und nicht etwa,
ob Friedrich Schlegel oder Tieck oder sonst Einer einmal ein Glas zu viel ge¬
trunken, oder ein Madchen zu viel geküßt habe, Dinge, die vollkommen gleich¬
gültig sind.

In dieser Beziehung ist es aber wirklich nöthig, auch den Besseren gegen¬
über, was man zu sagen hat, nicht einmal, sondern zehnmal zu sagen, um
nur verstanden zu werden.

So lange die Welt steht, ist es noch keinem Menschen, der seine fünf
Sinne hatte, eingefallen, einem Andern deshalb die Sittlichkeit abzusprechen,
weil er Leidenschaften durchgemacht hat, im Gegentheil fehlt demjenigen et-


Briefe über einzelne Gegenstände der deutschen Literatur.
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Erlauben Sie. daß ich noch einmal auf das Thema meines vorigen Brie¬
fes zurückkomme, die Schleiennachcrschen Briefe. Die preußischen Jahrbücher
haben darüber einige Bemerkungen gemacht, aus denen mir hervorzugehen
scheint, daß hier noch ein ganz ernsthaftes Mißverständniß zu beseitigen ist.
Dies Mißverständniß bezieht sich nicht bloß auf den einzelnen Fall, sondern
es betrifft--eine allgemeine Frage, die sich in jeder Periode einer sittlichen Kri¬
sis hervordrängt: nämlich das Verhältniß des sittlichen, zum ästhetischen Ge¬
sichtspunkt. - .

Bekanntlich hat die romantische Schule in ihrer Blüthezeit gerade von
dieser Seite her Anstoß gegeben. Sie waren als streitfertige Kritiker den an¬
erkannten Größen der Literatur gegenüber getreten und hatten ziemlich hart
über sie geurtheilt; um sich zu rächen, suchten die Gegner alles Mögliche her¬
vor, was sie in den Augen des Publicums brandmarken konnte. Durch Ro¬
mane, wie „Lucinde," machten ihnen die Romantiker leichtes Spiel, aber um
die damaligen Verhältnisse richtig zu würdigen, muß man sich vergegenwärtigen,
daß zu den Moralisten, welche gegen die Unsitte der neuen Schule predigten,
auch Kohebue gehörte, der Dichter von „Menschenhaß und Reue", und daß
daher die Schlegel, wenn sie jene Vorwürfe mit Zinsen wiedergaben, im voll¬
sten Recht waren. Die Schlegel trugen das Bewußtsein in sich, weder in
ihrem Leben, noch in ihren Schriften unsittlich zu sein, sondern ein neues,
höheres Princip der Sittlichkeit entdeckt zu haben, welches geeignet sei, wenn
nicht die ganze Menschheit, doch wenigstens den edleren Theil derselben tugend¬
haft und glücklich zu machen. Ob sie mit diesem Glauben Recht hatten, das
ist einzig und allein die Frage, auf die es heute ankommt, und nicht etwa,
ob Friedrich Schlegel oder Tieck oder sonst Einer einmal ein Glas zu viel ge¬
trunken, oder ein Madchen zu viel geküßt habe, Dinge, die vollkommen gleich¬
gültig sind.

In dieser Beziehung ist es aber wirklich nöthig, auch den Besseren gegen¬
über, was man zu sagen hat, nicht einmal, sondern zehnmal zu sagen, um
nur verstanden zu werden.

So lange die Welt steht, ist es noch keinem Menschen, der seine fünf
Sinne hatte, eingefallen, einem Andern deshalb die Sittlichkeit abzusprechen,
weil er Leidenschaften durchgemacht hat, im Gegentheil fehlt demjenigen et-


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[0119] Briefe über einzelne Gegenstände der deutschen Literatur. ' ?- Erlauben Sie. daß ich noch einmal auf das Thema meines vorigen Brie¬ fes zurückkomme, die Schleiennachcrschen Briefe. Die preußischen Jahrbücher haben darüber einige Bemerkungen gemacht, aus denen mir hervorzugehen scheint, daß hier noch ein ganz ernsthaftes Mißverständniß zu beseitigen ist. Dies Mißverständniß bezieht sich nicht bloß auf den einzelnen Fall, sondern es betrifft--eine allgemeine Frage, die sich in jeder Periode einer sittlichen Kri¬ sis hervordrängt: nämlich das Verhältniß des sittlichen, zum ästhetischen Ge¬ sichtspunkt. - . Bekanntlich hat die romantische Schule in ihrer Blüthezeit gerade von dieser Seite her Anstoß gegeben. Sie waren als streitfertige Kritiker den an¬ erkannten Größen der Literatur gegenüber getreten und hatten ziemlich hart über sie geurtheilt; um sich zu rächen, suchten die Gegner alles Mögliche her¬ vor, was sie in den Augen des Publicums brandmarken konnte. Durch Ro¬ mane, wie „Lucinde," machten ihnen die Romantiker leichtes Spiel, aber um die damaligen Verhältnisse richtig zu würdigen, muß man sich vergegenwärtigen, daß zu den Moralisten, welche gegen die Unsitte der neuen Schule predigten, auch Kohebue gehörte, der Dichter von „Menschenhaß und Reue", und daß daher die Schlegel, wenn sie jene Vorwürfe mit Zinsen wiedergaben, im voll¬ sten Recht waren. Die Schlegel trugen das Bewußtsein in sich, weder in ihrem Leben, noch in ihren Schriften unsittlich zu sein, sondern ein neues, höheres Princip der Sittlichkeit entdeckt zu haben, welches geeignet sei, wenn nicht die ganze Menschheit, doch wenigstens den edleren Theil derselben tugend¬ haft und glücklich zu machen. Ob sie mit diesem Glauben Recht hatten, das ist einzig und allein die Frage, auf die es heute ankommt, und nicht etwa, ob Friedrich Schlegel oder Tieck oder sonst Einer einmal ein Glas zu viel ge¬ trunken, oder ein Madchen zu viel geküßt habe, Dinge, die vollkommen gleich¬ gültig sind. In dieser Beziehung ist es aber wirklich nöthig, auch den Besseren gegen¬ über, was man zu sagen hat, nicht einmal, sondern zehnmal zu sagen, um nur verstanden zu werden. So lange die Welt steht, ist es noch keinem Menschen, der seine fünf Sinne hatte, eingefallen, einem Andern deshalb die Sittlichkeit abzusprechen, weil er Leidenschaften durchgemacht hat, im Gegentheil fehlt demjenigen et-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/119>, abgerufen am 27.12.2024.