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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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erst recht ein Spaß, besonders wenn es ein Lessing ist. der sich so verschätzte"
(S. 139), Mit demselben Freimuth, der uns in seiner Verbindung mit der
innigsten Verehrung seines Helden an dem Verfasser so wohl gefällt, bemerkt
er über das Verhältniß beider Männer weiter: "Wir dürfen uns hei aller
Ehrfurcht vor Lessing nicht verhehlen, daß er in philosophischen Dingeir doch
viel mehr von Kant, als dieser von ihm, hätte lernen können. Einzig in der
philosophischen Geschichts- und Kunstbetrachtung (sicher doch auch it, der ge¬
naueren Kenntniß der Geschichte der Philosophie) hatte Lessing einen gewissen
Vorsprung"; während er dagegen "von einer kritischen Erkenntnißtheorie kaum
eine Ahnung gehabt zu haben scheint" (S. 139).

Wie Eingangs die Parteifreude der Neukirchlichen über Lessings ver¬
meintliche Bekehrung, so macht der Verfasser zum Schlüsse die entgegenstehende
Derer zu Nichte, welche den Heiden des Fortschritts auch politisch gern radi-
calistren möchten. "Lessing," bemerkt er, war seiner Natur nach kein nationaler
und politischer Reformator und wollte keiner sein. Er dachte wahrscheinlich,
diejenige Freiheit, um welche er für sich selbst und Andre sich bemühte, die
geistige Freiheit, d. h. humane Bildung, sei schon an und für sich etwas werth,
und werde sein Volk auch zu der äußeren Freiheit, wie er sie wünschte, führen,
denn es sei auch in dieser Hinsicht nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer
die gerade ist" (S. 16S). Bezeichnend für Lessings Stellung findet der Ver¬
fasser schon das, "daß er so selten aus diese Dinge zu sprechen kommt. In
seinen Briefen, die doch 37 Jahre umfassen, ist jo gut wie garnicht von Po¬
litik die Rede"; unter seinen Epigrammen finden sich nur zwei politische, die
beide sehr zahm, das eine überdies, wie Hehler nachweist, nur der in Reime
gebrachte Ausspruch eines der sieben Weisen ist (S. 171 f.). "In seiner
Mustertragödie ist er dem Politischen förmlich aus dem Wege gegangen",
er glaubte, wie er selbst schreibt, "daß das Schicksal einer Tochter, die von
einem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist als ihr Leben,
für sich fähig sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Um¬
sturz der gesammten Staatsverfassung darauf folgte. (Dieser oder jener andere
Dichter, setzt Hehler hinzu, scheint umgekehrt zu denken: politischer Stoff
macht eine Tragödie anziehend genug, wenn auch kein Herz gerührt wird)"
es. 172).

Lessings herabsetzende Aeußerung über den Patriotismus ist bekannt, und
die Entschuldigung durch preußisch-patriotische Uebertreibungen, die er (wäh¬
rend des siebenjährigen Kriegs) habe mitanhören müssen, weist der Verfasser
als eine solche von der Hand, die Lessing selbst sich verbeten haben würde.
"Wenn er das Lob des Patrioten verschmäht, der nicht zugleich Weltbürger
wäre, so sagt er sich damit keineswegs vom Patriotismus los. sondern ver-
wirft nur jene ausschließende und blinde Liebe zum eignen Lande, die sich


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erst recht ein Spaß, besonders wenn es ein Lessing ist. der sich so verschätzte"
(S. 139), Mit demselben Freimuth, der uns in seiner Verbindung mit der
innigsten Verehrung seines Helden an dem Verfasser so wohl gefällt, bemerkt
er über das Verhältniß beider Männer weiter: „Wir dürfen uns hei aller
Ehrfurcht vor Lessing nicht verhehlen, daß er in philosophischen Dingeir doch
viel mehr von Kant, als dieser von ihm, hätte lernen können. Einzig in der
philosophischen Geschichts- und Kunstbetrachtung (sicher doch auch it, der ge¬
naueren Kenntniß der Geschichte der Philosophie) hatte Lessing einen gewissen
Vorsprung"; während er dagegen „von einer kritischen Erkenntnißtheorie kaum
eine Ahnung gehabt zu haben scheint" (S. 139).

Wie Eingangs die Parteifreude der Neukirchlichen über Lessings ver¬
meintliche Bekehrung, so macht der Verfasser zum Schlüsse die entgegenstehende
Derer zu Nichte, welche den Heiden des Fortschritts auch politisch gern radi-
calistren möchten. „Lessing," bemerkt er, war seiner Natur nach kein nationaler
und politischer Reformator und wollte keiner sein. Er dachte wahrscheinlich,
diejenige Freiheit, um welche er für sich selbst und Andre sich bemühte, die
geistige Freiheit, d. h. humane Bildung, sei schon an und für sich etwas werth,
und werde sein Volk auch zu der äußeren Freiheit, wie er sie wünschte, führen,
denn es sei auch in dieser Hinsicht nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer
die gerade ist" (S. 16S). Bezeichnend für Lessings Stellung findet der Ver¬
fasser schon das, „daß er so selten aus diese Dinge zu sprechen kommt. In
seinen Briefen, die doch 37 Jahre umfassen, ist jo gut wie garnicht von Po¬
litik die Rede"; unter seinen Epigrammen finden sich nur zwei politische, die
beide sehr zahm, das eine überdies, wie Hehler nachweist, nur der in Reime
gebrachte Ausspruch eines der sieben Weisen ist (S. 171 f.). „In seiner
Mustertragödie ist er dem Politischen förmlich aus dem Wege gegangen",
er glaubte, wie er selbst schreibt, „daß das Schicksal einer Tochter, die von
einem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist als ihr Leben,
für sich fähig sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Um¬
sturz der gesammten Staatsverfassung darauf folgte. (Dieser oder jener andere
Dichter, setzt Hehler hinzu, scheint umgekehrt zu denken: politischer Stoff
macht eine Tragödie anziehend genug, wenn auch kein Herz gerührt wird)"
es. 172).

Lessings herabsetzende Aeußerung über den Patriotismus ist bekannt, und
die Entschuldigung durch preußisch-patriotische Uebertreibungen, die er (wäh¬
rend des siebenjährigen Kriegs) habe mitanhören müssen, weist der Verfasser
als eine solche von der Hand, die Lessing selbst sich verbeten haben würde.
„Wenn er das Lob des Patrioten verschmäht, der nicht zugleich Weltbürger
wäre, so sagt er sich damit keineswegs vom Patriotismus los. sondern ver-
wirft nur jene ausschließende und blinde Liebe zum eignen Lande, die sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/117>, abgerufen am 23.07.2024.