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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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oder der Wink §. 70, wo das unmittelbare Geoffenbartsein gewisser Wahr¬
heiten dazu herabgestimmt wird, "daß Gott verstatte, oder einleite, daß bloße
Vernunftwabrheiten als unmittelbar geoffenbarte eine Zeit lang gelehrt wer¬
den." Ja schon dadurch, daß nach §. 4 die Offenbarung dem Menschenge¬
schlecht nichts geben soll, worauf dusseibe nicht auch durch sich selbst, wenn
auch später, hätte kommen können, daß mithin die Offenbarung keinen ihr
eigenen, der Vernunft unerreichbaren Inhalt hat, ist sie andern Lessing'schen
Erklärungen zufolge zu einer Offenbarung gemacht, "die nichts offenbart",
d. h. es ist dadurch der ganze Begriff der Offenbarung aufgelöst, und selbst
das angebliche "Früher" versteht sich lediglich als das natürliche Boraneilen
bevorzugter Geister vor der Menge. "Hienach können wir," sagt der Verfasser
mit Recht," zwischen beiden Schriften in Bezug auf ihr Verhältniß zur Offen¬
barung einen Unterschied nicht des Standpunkts, sondern nur der Ausführung
zugeben, welcher sich leicht erklärt aus den verschiedenen Zwecken. Die Er¬
ziehung des Menschengeschlechts, gegen einen Feind der positiven Religion
gerichtet, hat zu zeigen, daß diese doch auch eine der wahren Religion förder¬
liche Seite habe; der Nathan, welcher den Theologen einen Possen spielen
sollte, muß die andere Seite, den Nachtheil, welchen geoffenbarte Religionen
dem menschlichen Geschlechte bringen, hervorkehren. Von einer eigentlichen
Offenbarung aber und einer absoluten positiven Religion weiß auch schon
die Erziehung des Menschengeschlechts nichts mehr. Nicht ist sie gegen den
Deismus des Nathan gerichtet, vielmehr ist der Nathan eine Wahrung des¬
jenigen Rechts des Deismus, welches Lessing von jeher anerkannt und die¬
sem auch durch die Erziehung des Menschengeschlechts nicht hat verkümmern
wollen" (S. 14. 17. 21).

Lessings Christenthum und zunächst die Frage anlangend, ob er sich selbst
für einen Christen gehalten und ausgegeben, sagt Hehler treffend: "Das christ¬
liche Gefühl, welchem Lessing das Wort redet, läßt sich nicht als das seinige,
und sein religiöses und sonstiges Gefühl nicht als das christliche nachweisen.
Die Gründe (für die Wahrheit des Christenthums), die er genügend fände,
hat er nicht, und die, welche er hat, genügen ihm nicht. Das Christenthum
ist wesentlich Glaube an Jesus als einen Gegenstand der Religion (also
nicht als bloßen Religionsstifter oder Lehrer, oder Beispiel zur Nachahmung).
Eine solche Anerkennung Jesu findet sich bei Lessing nirgends, wol aber die
unzweideutige Ablehnung derselben. Hieraus folgt, daß, wenn er sich nicht
für einen Christen in seinem und, zugleich dem eigentlichen geschichtlichen Sinne
des Wortes hielt, er sich nur für etwas nicht hielt, was er nicht war. Er
war ein "dccidirter Nichtchrist" wie Goethe; aber wenn man von einem christ¬
lichen Nichtchristen reden dürfte, so Hütte er wohl auf den Titel einigen An¬
spruch. Wie könnte auch Jemand eine Erscheinung hassen, die er als eine


Grenzboten IV. 1861. 14

oder der Wink §. 70, wo das unmittelbare Geoffenbartsein gewisser Wahr¬
heiten dazu herabgestimmt wird, „daß Gott verstatte, oder einleite, daß bloße
Vernunftwabrheiten als unmittelbar geoffenbarte eine Zeit lang gelehrt wer¬
den." Ja schon dadurch, daß nach §. 4 die Offenbarung dem Menschenge¬
schlecht nichts geben soll, worauf dusseibe nicht auch durch sich selbst, wenn
auch später, hätte kommen können, daß mithin die Offenbarung keinen ihr
eigenen, der Vernunft unerreichbaren Inhalt hat, ist sie andern Lessing'schen
Erklärungen zufolge zu einer Offenbarung gemacht, „die nichts offenbart",
d. h. es ist dadurch der ganze Begriff der Offenbarung aufgelöst, und selbst
das angebliche „Früher" versteht sich lediglich als das natürliche Boraneilen
bevorzugter Geister vor der Menge. „Hienach können wir," sagt der Verfasser
mit Recht," zwischen beiden Schriften in Bezug auf ihr Verhältniß zur Offen¬
barung einen Unterschied nicht des Standpunkts, sondern nur der Ausführung
zugeben, welcher sich leicht erklärt aus den verschiedenen Zwecken. Die Er¬
ziehung des Menschengeschlechts, gegen einen Feind der positiven Religion
gerichtet, hat zu zeigen, daß diese doch auch eine der wahren Religion förder¬
liche Seite habe; der Nathan, welcher den Theologen einen Possen spielen
sollte, muß die andere Seite, den Nachtheil, welchen geoffenbarte Religionen
dem menschlichen Geschlechte bringen, hervorkehren. Von einer eigentlichen
Offenbarung aber und einer absoluten positiven Religion weiß auch schon
die Erziehung des Menschengeschlechts nichts mehr. Nicht ist sie gegen den
Deismus des Nathan gerichtet, vielmehr ist der Nathan eine Wahrung des¬
jenigen Rechts des Deismus, welches Lessing von jeher anerkannt und die¬
sem auch durch die Erziehung des Menschengeschlechts nicht hat verkümmern
wollen" (S. 14. 17. 21).

Lessings Christenthum und zunächst die Frage anlangend, ob er sich selbst
für einen Christen gehalten und ausgegeben, sagt Hehler treffend: „Das christ¬
liche Gefühl, welchem Lessing das Wort redet, läßt sich nicht als das seinige,
und sein religiöses und sonstiges Gefühl nicht als das christliche nachweisen.
Die Gründe (für die Wahrheit des Christenthums), die er genügend fände,
hat er nicht, und die, welche er hat, genügen ihm nicht. Das Christenthum
ist wesentlich Glaube an Jesus als einen Gegenstand der Religion (also
nicht als bloßen Religionsstifter oder Lehrer, oder Beispiel zur Nachahmung).
Eine solche Anerkennung Jesu findet sich bei Lessing nirgends, wol aber die
unzweideutige Ablehnung derselben. Hieraus folgt, daß, wenn er sich nicht
für einen Christen in seinem und, zugleich dem eigentlichen geschichtlichen Sinne
des Wortes hielt, er sich nur für etwas nicht hielt, was er nicht war. Er
war ein „dccidirter Nichtchrist" wie Goethe; aber wenn man von einem christ¬
lichen Nichtchristen reden dürfte, so Hütte er wohl auf den Titel einigen An¬
spruch. Wie könnte auch Jemand eine Erscheinung hassen, die er als eine


Grenzboten IV. 1861. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/115>, abgerufen am 29.12.2024.