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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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sein, hat neuerlich ein frommer Literaturhistoriker (W. Wackemagel) und gleich¬
zeitig ein Consistorialrath (Stirn) entdeckt, wenn er nur um zwei Jahre spä¬
ter wäre gedichtet worden. Dann würden nicht bloß manche Einzelnheiten
anders lauten, sondern auch "Haltung und Sinn des Ganzen würde anders,
wesentlich anders, ausgefallen sein". Fragt man die Herren, woher sie das
wissen, so verweisen sie auf die Erziehung des Menschengeschlechts, die Lessing
das Jahr nach der Vollendung des Nathan geschrieben habe. Hier erkenne er das
Bedürfniß einer der Vernunft zu Hilfe kommenden Offenbarung an und setze die
christliche Offenbarung als höhere Stufe über die mosaische, während er den im
Nathan mit beiden als gleichberechtigt hingestellten Islam nunmehr als unberechtigt
bei Seite lasse: eine fortgeschrittene Ansicht, mit welcher die dem Nathan zum
Grunde liegende nicht mehr zu vereinigen sei. Hätte folglich Lessing den bösen Na¬
than nach der Erziehung des Menschengeschlechts gedichtet oder umgedichtet, so
wäre er ein guter Nathan, ein Nathan nach dem Herzen dieser frommen Herren
geworden. Schade nur sür's Erste, daß der Nathan, wie sonst Jedermann weiß,
wie aber der Verfasser auch den Herren, die es nicht wissen wollen, vor Augen
legt, in der That nach der Erziehung des Menschengeschlechts geschrieben, und
dennoch so bös ausgefallen ist! Und Schade für's Andere, daß die Erziehung
des Menschengeschlechts selbst, wie der Verfasser gleichfalls nachweist, auf we¬
sentlich gleichem Loden mit dem Nathan steht, anders aber und der Recht-
glüubigkeit günstiger nur von solchen ausgelegt werden kann, die zwischen
Bild und Sache nicht unterscheiden können, oder nicht unterscheiden wollen.

Je häufiger Lessings Erziehung des Menschengeschlechts in diesem theo¬
logischen Sinne mißverstanden oder mißdeutet wird, desto verdienstlicher sind
des Verfassers Erörterungen über den wahren Sinn und die Bedeutung dieser
Schrift. Er bezeichnet sie als eine durchaus exoterische: wenn Lessing die
Offenbarung als göttliche Erziehung darstelle, so verfahre er selbst als Päda¬
gog, der sich nach der schwachen Fassungskraft der Mehrzahl seiner Leser
richte. Das von Lessing gebrauchte Bild hat das Schiefe, daß es als Er-
, ziehung durch einen draußen stehenden Gott darstellt, was vielmehr immanente
Selbsterziehung ist; das geht so weit, daß Lessing im Bilde einen Theil des
Menschengeschlechts ,,den Gott in einen Erziehungsplan habe fassen wollen",
von der übrigen Menschheit unterscheidet, bei der dies nicht der Fall gewesen
(§. 54); ein Zug, durch welchen das Bild mit dem Gedanken Lessings, der
sich die göttliche Erziehung des Menschengeschlechtes nicht anders als allge¬
mein gedacht haben kann, in directen Widerspruch tritt. Doch wem dieser
Widerspruch das Verständniß noch nicht öffnet, dem sollte es Lessings eigne
Erklärung in der Vorrede thun, wo er die Reihe der positiven Religionen
als "den Gang betrachtet, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes
Orts einzig und allein entwickeln kann und noch ferner entwickeln soll";


sein, hat neuerlich ein frommer Literaturhistoriker (W. Wackemagel) und gleich¬
zeitig ein Consistorialrath (Stirn) entdeckt, wenn er nur um zwei Jahre spä¬
ter wäre gedichtet worden. Dann würden nicht bloß manche Einzelnheiten
anders lauten, sondern auch „Haltung und Sinn des Ganzen würde anders,
wesentlich anders, ausgefallen sein". Fragt man die Herren, woher sie das
wissen, so verweisen sie auf die Erziehung des Menschengeschlechts, die Lessing
das Jahr nach der Vollendung des Nathan geschrieben habe. Hier erkenne er das
Bedürfniß einer der Vernunft zu Hilfe kommenden Offenbarung an und setze die
christliche Offenbarung als höhere Stufe über die mosaische, während er den im
Nathan mit beiden als gleichberechtigt hingestellten Islam nunmehr als unberechtigt
bei Seite lasse: eine fortgeschrittene Ansicht, mit welcher die dem Nathan zum
Grunde liegende nicht mehr zu vereinigen sei. Hätte folglich Lessing den bösen Na¬
than nach der Erziehung des Menschengeschlechts gedichtet oder umgedichtet, so
wäre er ein guter Nathan, ein Nathan nach dem Herzen dieser frommen Herren
geworden. Schade nur sür's Erste, daß der Nathan, wie sonst Jedermann weiß,
wie aber der Verfasser auch den Herren, die es nicht wissen wollen, vor Augen
legt, in der That nach der Erziehung des Menschengeschlechts geschrieben, und
dennoch so bös ausgefallen ist! Und Schade für's Andere, daß die Erziehung
des Menschengeschlechts selbst, wie der Verfasser gleichfalls nachweist, auf we¬
sentlich gleichem Loden mit dem Nathan steht, anders aber und der Recht-
glüubigkeit günstiger nur von solchen ausgelegt werden kann, die zwischen
Bild und Sache nicht unterscheiden können, oder nicht unterscheiden wollen.

Je häufiger Lessings Erziehung des Menschengeschlechts in diesem theo¬
logischen Sinne mißverstanden oder mißdeutet wird, desto verdienstlicher sind
des Verfassers Erörterungen über den wahren Sinn und die Bedeutung dieser
Schrift. Er bezeichnet sie als eine durchaus exoterische: wenn Lessing die
Offenbarung als göttliche Erziehung darstelle, so verfahre er selbst als Päda¬
gog, der sich nach der schwachen Fassungskraft der Mehrzahl seiner Leser
richte. Das von Lessing gebrauchte Bild hat das Schiefe, daß es als Er-
, ziehung durch einen draußen stehenden Gott darstellt, was vielmehr immanente
Selbsterziehung ist; das geht so weit, daß Lessing im Bilde einen Theil des
Menschengeschlechts ,,den Gott in einen Erziehungsplan habe fassen wollen",
von der übrigen Menschheit unterscheidet, bei der dies nicht der Fall gewesen
(§. 54); ein Zug, durch welchen das Bild mit dem Gedanken Lessings, der
sich die göttliche Erziehung des Menschengeschlechtes nicht anders als allge¬
mein gedacht haben kann, in directen Widerspruch tritt. Doch wem dieser
Widerspruch das Verständniß noch nicht öffnet, dem sollte es Lessings eigne
Erklärung in der Vorrede thun, wo er die Reihe der positiven Religionen
als „den Gang betrachtet, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes
Orts einzig und allein entwickeln kann und noch ferner entwickeln soll";


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/114>, abgerufen am 23.07.2024.