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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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daß jeder weiß, was alle Uebrigen nach dem Willen des obersten Leiters mit
ihm zu denken haben. Dann wird jeden ersten Januar durch die Spitze der
Brüderschaft ein Jahresspruch ausgegeben und gleichsam als geistliche Parole
allen ..Genossen des königlichen Priestervolkes" mitgetheilt. Dieser Jahres¬
spruch wird alle Sonntage im Betsaal des Rauben Hauses im Chor gespro¬
chen (wie der "Kettenspruch" in gewissen Freimaurersystemen) und zur gleichen
Stunde haben alle Brüder draußen in der Welt dasselbe zu thun, so daß sich
gleichsam eine elektrische Kette ununterbrochen durch Zeit und Raum von Bru¬
derherz zu Bruderherz fortpflanzt. Ein weiteres Mittel des Zusammenhalts ist
sodann durch die Versammlungen gegeben, welche am Ersten jedes Monats
im Rauben Hause stattfinden, und bei denen eine gemeinschaftliche gegen¬
seitige Fürbitte vorkommt, in welche alle Glieder des Bundes namentlich ein¬
geschlossen werden. Endlich wird das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit
durch die Einrichtung gefördert und gehoben, nach welcher sämmtliche Glieder
der Genossenschaft, wo immer sie sich aufhalten mögen, an zwei ein für alle
Mal bestimmten Tagen des Jahres (1. Advent und Charfreitag) das Abend¬
mahl zu nehmen haben.

Um den Verkehr mit dem Centrum des Centrums der Brüderschaft --
d. h. mit dem Willen des Dr. Wiehern -- fortwährend zu erhalten,
mußte eine Korrespondenz eingeleitet werden. Zuerst genügten gewöhnliche
Schreibebriefe. Von 1852 begannen die lithographirten Rundschreiben des
Vorstehers und "Oberconvictmeisters," die wir Hirtenbriefe nennen wür¬
den, wenn sie nicht geheim gehalten werden sollten, Letzteres geschah
nicht immer und war nach Dr. Holzendorffs Ansicht wenigstens bei den bis
1859 erlassenen dreizehn Sendschreiben nicht gerade nöthig. Indeß würde
es doch vielleicht für die Brüder nützlich gewesen sein, wenn sie besser ver¬
standen hätten, reinen Mund zu halten; denn in einer von jenen Allocutionen
sagt Dr. Wiehern: "Wenn ich wüßte, daß die Brüder verschwiegen wären,
würde ich ihnen noch Manches mittheilen können, was ich jetzt leider ver¬
schweigen muß." Ein regelmäßigerer Verkehr, als ihn die Encykliken des geist¬
lichen Obern ermöglichten, wurde dann durch die "Fliegenden Blätter des
Rauben Hauses" vermittelt, die jeder Sendbruder zu halten verpflichtet ist, und
die in einer von Wiehern erfundenen Chiffernschrift, zu welcher nur die Brü¬
der den Schlüssel besitzen, die laufenden Nachrichten bringt. Wir überlassen
jedermann seine eignen Vermuthungen über die Nothwendigkeit dieser Hiero¬
glyphenschrift. Für die Mittheilung, daß dem Bruder Schulze ein Kind ge¬
boren, daß Bruder Müller von Mamre nach Tiberias versetzt worden ist und
ähnliche finstre Geheimnisse möchte sie nicht absolut nothwendig sein. Bester
dürfte sie sich eignen, wenn es in Disciplinarsachen etwas zu melden gibt,
wovon die böse Welt nichts zu wissen braucht. Gewiß ist jedenfalls, daß ein


daß jeder weiß, was alle Uebrigen nach dem Willen des obersten Leiters mit
ihm zu denken haben. Dann wird jeden ersten Januar durch die Spitze der
Brüderschaft ein Jahresspruch ausgegeben und gleichsam als geistliche Parole
allen ..Genossen des königlichen Priestervolkes" mitgetheilt. Dieser Jahres¬
spruch wird alle Sonntage im Betsaal des Rauben Hauses im Chor gespro¬
chen (wie der „Kettenspruch" in gewissen Freimaurersystemen) und zur gleichen
Stunde haben alle Brüder draußen in der Welt dasselbe zu thun, so daß sich
gleichsam eine elektrische Kette ununterbrochen durch Zeit und Raum von Bru¬
derherz zu Bruderherz fortpflanzt. Ein weiteres Mittel des Zusammenhalts ist
sodann durch die Versammlungen gegeben, welche am Ersten jedes Monats
im Rauben Hause stattfinden, und bei denen eine gemeinschaftliche gegen¬
seitige Fürbitte vorkommt, in welche alle Glieder des Bundes namentlich ein¬
geschlossen werden. Endlich wird das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit
durch die Einrichtung gefördert und gehoben, nach welcher sämmtliche Glieder
der Genossenschaft, wo immer sie sich aufhalten mögen, an zwei ein für alle
Mal bestimmten Tagen des Jahres (1. Advent und Charfreitag) das Abend¬
mahl zu nehmen haben.

Um den Verkehr mit dem Centrum des Centrums der Brüderschaft —
d. h. mit dem Willen des Dr. Wiehern — fortwährend zu erhalten,
mußte eine Korrespondenz eingeleitet werden. Zuerst genügten gewöhnliche
Schreibebriefe. Von 1852 begannen die lithographirten Rundschreiben des
Vorstehers und „Oberconvictmeisters," die wir Hirtenbriefe nennen wür¬
den, wenn sie nicht geheim gehalten werden sollten, Letzteres geschah
nicht immer und war nach Dr. Holzendorffs Ansicht wenigstens bei den bis
1859 erlassenen dreizehn Sendschreiben nicht gerade nöthig. Indeß würde
es doch vielleicht für die Brüder nützlich gewesen sein, wenn sie besser ver¬
standen hätten, reinen Mund zu halten; denn in einer von jenen Allocutionen
sagt Dr. Wiehern: „Wenn ich wüßte, daß die Brüder verschwiegen wären,
würde ich ihnen noch Manches mittheilen können, was ich jetzt leider ver¬
schweigen muß." Ein regelmäßigerer Verkehr, als ihn die Encykliken des geist¬
lichen Obern ermöglichten, wurde dann durch die „Fliegenden Blätter des
Rauben Hauses" vermittelt, die jeder Sendbruder zu halten verpflichtet ist, und
die in einer von Wiehern erfundenen Chiffernschrift, zu welcher nur die Brü¬
der den Schlüssel besitzen, die laufenden Nachrichten bringt. Wir überlassen
jedermann seine eignen Vermuthungen über die Nothwendigkeit dieser Hiero¬
glyphenschrift. Für die Mittheilung, daß dem Bruder Schulze ein Kind ge¬
boren, daß Bruder Müller von Mamre nach Tiberias versetzt worden ist und
ähnliche finstre Geheimnisse möchte sie nicht absolut nothwendig sein. Bester
dürfte sie sich eignen, wenn es in Disciplinarsachen etwas zu melden gibt,
wovon die böse Welt nichts zu wissen braucht. Gewiß ist jedenfalls, daß ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/98>, abgerufen am 22.07.2024.