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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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welcher der Name des Kandidaten angeheftet ist. oder tragen dessen Etiquette
N. N.) am Hut. Wer die derbsten Fauste und die stämmigsten Wähler
für sich hat. die einen Straßenscandal nicht scheuen und, wo es gilt, selbst
Pistolen. Säbel und Messer gebrauchen, der wird der Deputirte.

Dürfen wir uns demnach von der ungarischen Freiheit keine sehr hohe
Vorstellung machen, so muß man um so mehr anerkennen, daß sich hier min¬
destens ebenso viel politischer Sinn, Selbständigkeit der Meinung und Cha¬
rakter als anderwärts entwickelt hat. Es ist wahr, daß bei der geschilderten
Procedur nicht grade immer Kapacitäten auf den Landtag kommen; aber
die Nullen schließen sich an einen Parteiführer an. der sie tüchtig schuld und
eine vortreffliche Disciplin handhabt. Die Debatten gleichen dann den Pa¬
rademärschen auf dem Exercierplatze. Alles ist vorher arrangirt. jedes Wort,
jede Jnterpellation, jedes Vorkommniß reglementmäßig festgesetzt.

Obschon die Magyaren im Königreiche die Minorität bilden, so besitzen
sie auf dem Landtage doch die überwiegende Majorität und majorisiren und
unerbittlicher Rücksichtslosigkeit die wenigen Vertreter der übrigen Nationen im
Lande. Obschon ihre Programme von Versicherungen der Gleichberechtigung
der Nationalitäten überfließen, so sind weder Deutsche noch Slovaken. noch Ser¬
ben, noch Rumänen vertreten, ja als die Deputirten der Nichtmagyaren für die
Rechte ihrer Nation sprechen wollten, kam es zu sehr leidenschaftlichen Sce¬
nen, und man entzog den Rednern das Wort. Man darf sich nicht wun¬
dern, wenn diese Nationen sich an Wien anschließen und von dort Schutz
Segen magyarische Herrschaft erwarten. Die Magyaren thun ihnen eben, was
die wiener Politik bisher den Magyaren that.

Die Ungarn haben sich seit Jahrhunderten durch starres Festhalten an
ihrer Verfassung ausgezeichnet; denn diese allein sichert ihnen die Freiheit ge¬
gen die Deutschen und die Herrschaft über die andern Nationen. So ist denn
auch die Opposition gegen die Reichseinheit, wie sie von Wien aus erstrebt
wird, ein Festhalten am Buchstaben, nicht viel besser als das Verfahren des
Preußischen Herrenhauses, wenn es die historischen Rechte der Steuerfreiheit, der
angeborenen Landrathswürde :c. vertheidigt.") So herrscht jetzt Anarchie in
Ungarn. Factisch regiert der Kaiser, nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er
aber nur Erzherzog, weshalb man alle Regierungshandlungen, ja sämmtliche
Gesetze. Processe, richterliche Entscheidungen von 1849 ab für illegal erklärt
und cassirt hat. Die Statthalterei befiehlt, und Niemand gehorcht, die Comi-
tate ordnen an, entscheiden und befehlen, und die Satthalterei versagt die Geneh¬
migung. Es gibt doppelte Behörden, doppelte Gerichtshöfe, zwiefaches Recht. Die



") Ein viel näher liegender Vergleich scheint uns der mit der Opposition der Schleswig-Hol¬
steiner, wenn sie für die dänische Freiheit ihre alten Rechte auf Selbständigkeit und ihre Na-
ii Red. onalität nicht aufgeben wollen.
"Lrenjboten III,

welcher der Name des Kandidaten angeheftet ist. oder tragen dessen Etiquette
N. N.) am Hut. Wer die derbsten Fauste und die stämmigsten Wähler
für sich hat. die einen Straßenscandal nicht scheuen und, wo es gilt, selbst
Pistolen. Säbel und Messer gebrauchen, der wird der Deputirte.

Dürfen wir uns demnach von der ungarischen Freiheit keine sehr hohe
Vorstellung machen, so muß man um so mehr anerkennen, daß sich hier min¬
destens ebenso viel politischer Sinn, Selbständigkeit der Meinung und Cha¬
rakter als anderwärts entwickelt hat. Es ist wahr, daß bei der geschilderten
Procedur nicht grade immer Kapacitäten auf den Landtag kommen; aber
die Nullen schließen sich an einen Parteiführer an. der sie tüchtig schuld und
eine vortreffliche Disciplin handhabt. Die Debatten gleichen dann den Pa¬
rademärschen auf dem Exercierplatze. Alles ist vorher arrangirt. jedes Wort,
jede Jnterpellation, jedes Vorkommniß reglementmäßig festgesetzt.

Obschon die Magyaren im Königreiche die Minorität bilden, so besitzen
sie auf dem Landtage doch die überwiegende Majorität und majorisiren und
unerbittlicher Rücksichtslosigkeit die wenigen Vertreter der übrigen Nationen im
Lande. Obschon ihre Programme von Versicherungen der Gleichberechtigung
der Nationalitäten überfließen, so sind weder Deutsche noch Slovaken. noch Ser¬
ben, noch Rumänen vertreten, ja als die Deputirten der Nichtmagyaren für die
Rechte ihrer Nation sprechen wollten, kam es zu sehr leidenschaftlichen Sce¬
nen, und man entzog den Rednern das Wort. Man darf sich nicht wun¬
dern, wenn diese Nationen sich an Wien anschließen und von dort Schutz
Segen magyarische Herrschaft erwarten. Die Magyaren thun ihnen eben, was
die wiener Politik bisher den Magyaren that.

Die Ungarn haben sich seit Jahrhunderten durch starres Festhalten an
ihrer Verfassung ausgezeichnet; denn diese allein sichert ihnen die Freiheit ge¬
gen die Deutschen und die Herrschaft über die andern Nationen. So ist denn
auch die Opposition gegen die Reichseinheit, wie sie von Wien aus erstrebt
wird, ein Festhalten am Buchstaben, nicht viel besser als das Verfahren des
Preußischen Herrenhauses, wenn es die historischen Rechte der Steuerfreiheit, der
angeborenen Landrathswürde :c. vertheidigt.") So herrscht jetzt Anarchie in
Ungarn. Factisch regiert der Kaiser, nach dem Buchstaben des Gesetzes ist er
aber nur Erzherzog, weshalb man alle Regierungshandlungen, ja sämmtliche
Gesetze. Processe, richterliche Entscheidungen von 1849 ab für illegal erklärt
und cassirt hat. Die Statthalterei befiehlt, und Niemand gehorcht, die Comi-
tate ordnen an, entscheiden und befehlen, und die Satthalterei versagt die Geneh¬
migung. Es gibt doppelte Behörden, doppelte Gerichtshöfe, zwiefaches Recht. Die



") Ein viel näher liegender Vergleich scheint uns der mit der Opposition der Schleswig-Hol¬
steiner, wenn sie für die dänische Freiheit ihre alten Rechte auf Selbständigkeit und ihre Na-
ii Red. onalität nicht aufgeben wollen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/75>, abgerufen am 23.12.2024.