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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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sich dazu nicht hergeben, und gewisse Disciplinen verkümmern unter dieser Ob¬
hut des Krummstabes gänzlich.

Das beliebteste Studium ist die Jurisprudenz, da diese nicht nur eine gut
bezahlte Praxis (namhafte Advocaten verdienen sich 10--12000 Gulden jährlich),
sondern auch Anrecht auf politische Carriere eröffnet. Die Jurateu, d. h.
Studenten des Jus, haben daher auch eine bevorzugte Stellung, geben den
Ton an, führen Demonstrationen aus, sind die beweglichen Colonnen der po¬
litischen Parteien. Nächst ihnen gibt es noch Mediciner in Menge, meist
arme Burschen, die sich von Privatstunden und Hauslehrerposten ernähren.
Unter ihnen findet man viele Juden. Die Philosophie ist auf's Gymnasium
verwiesen, Mathematik auf polytechnische Schulen; an Universitäten dient sie
nur als Aushilfe, da man ja keine Lehrer bildet. Frisches studentisches Le¬
ben bemerkt mau nicht, literarische Vereine scheinen unbekannt zu sein. Man
studirt, wie man ein Handwerk lernt, um des Brotes willen. Das gesellige
Leben beschränkt sich auf Kaffeetrinken, Gefrornesessen, Billardspielen und Po¬
litisiren. Würde man deutsche Lehr- und Lernfreiheit einführen und die Gym¬
nasien sücnlarisiren, das schulmäßige Beaufsichtiger, die jährlichen geistlosen
Prüfungen des durchgemachten Cursus aufheben, so würde dem Lande unend¬
licher Nutzen daraus erwachsen.

Was die politischen Verhältnisse und Parteien anlangt, so sind diese für
das Ausland nicht ganz leicht zu begreifen. Ungarn hat die freieste Commu-
nalversassung, aber diese kam bis 1848 nur dem Adel zu Gute, welcher
als Gesetzgeber im Landtage saß und als Vcrwaltungs -, Polizei- und Gerichts-
behörde die autonome Gemeinde autonom regierte. Der Bezirks- oder Stuhlrichter
war sein Beamter, den Geistlichen wählte er, eine Appellation von seiner Ent¬
scheidung gab es nicht, mindestens war sie fruchtlos. Vom Bürger konnte
er nur vor einem adligen Gericht verklagt worden. Diese autonomen Gemein¬
den hatten das Recht, jeden königlichen Erlaß, der ihnen illegal schien, aä
g-ela. zu legen und sich mit Gewalt der Ausführung desselben zu widersetze".
Diese Verfassung war demnach ein stehender Bürgerkrieg, wie in den Zeiten
der mittelalterlichen Vasallen. Um in den Landtag zu kommen, wurden gro߬
artige Bestechungen angewandt, und selbst Kossuths Wahl hat seiner Partei
viele Tausende gekostet. Zwar hat der Landtag von 1843 diese aristokratische
Verfassung zu einer demokratischen umgeschaffen, aber fast nur Juristen haben
davon Vortheil geballt. Selbst im Landtag von 1861 findet man fast nur
Adel und Juristen, bürgerliche Elemente sind sehr sparsam darin enthalten.
Auch wurden die alten Wahlmanöver vorgenommen, d. h. durch freie Zeche
gewann man sich einen Anhang, dieser besetzte am Wahltage rechtzeitig das
Wahllocal, prügelte die Gegenpartei aus demselben heraus oder ließ sie lieber
gleich gar nicht hinein. Denn die Parteien schaaren sich um eine Fahne, an


sich dazu nicht hergeben, und gewisse Disciplinen verkümmern unter dieser Ob¬
hut des Krummstabes gänzlich.

Das beliebteste Studium ist die Jurisprudenz, da diese nicht nur eine gut
bezahlte Praxis (namhafte Advocaten verdienen sich 10—12000 Gulden jährlich),
sondern auch Anrecht auf politische Carriere eröffnet. Die Jurateu, d. h.
Studenten des Jus, haben daher auch eine bevorzugte Stellung, geben den
Ton an, führen Demonstrationen aus, sind die beweglichen Colonnen der po¬
litischen Parteien. Nächst ihnen gibt es noch Mediciner in Menge, meist
arme Burschen, die sich von Privatstunden und Hauslehrerposten ernähren.
Unter ihnen findet man viele Juden. Die Philosophie ist auf's Gymnasium
verwiesen, Mathematik auf polytechnische Schulen; an Universitäten dient sie
nur als Aushilfe, da man ja keine Lehrer bildet. Frisches studentisches Le¬
ben bemerkt mau nicht, literarische Vereine scheinen unbekannt zu sein. Man
studirt, wie man ein Handwerk lernt, um des Brotes willen. Das gesellige
Leben beschränkt sich auf Kaffeetrinken, Gefrornesessen, Billardspielen und Po¬
litisiren. Würde man deutsche Lehr- und Lernfreiheit einführen und die Gym¬
nasien sücnlarisiren, das schulmäßige Beaufsichtiger, die jährlichen geistlosen
Prüfungen des durchgemachten Cursus aufheben, so würde dem Lande unend¬
licher Nutzen daraus erwachsen.

Was die politischen Verhältnisse und Parteien anlangt, so sind diese für
das Ausland nicht ganz leicht zu begreifen. Ungarn hat die freieste Commu-
nalversassung, aber diese kam bis 1848 nur dem Adel zu Gute, welcher
als Gesetzgeber im Landtage saß und als Vcrwaltungs -, Polizei- und Gerichts-
behörde die autonome Gemeinde autonom regierte. Der Bezirks- oder Stuhlrichter
war sein Beamter, den Geistlichen wählte er, eine Appellation von seiner Ent¬
scheidung gab es nicht, mindestens war sie fruchtlos. Vom Bürger konnte
er nur vor einem adligen Gericht verklagt worden. Diese autonomen Gemein¬
den hatten das Recht, jeden königlichen Erlaß, der ihnen illegal schien, aä
g-ela. zu legen und sich mit Gewalt der Ausführung desselben zu widersetze».
Diese Verfassung war demnach ein stehender Bürgerkrieg, wie in den Zeiten
der mittelalterlichen Vasallen. Um in den Landtag zu kommen, wurden gro߬
artige Bestechungen angewandt, und selbst Kossuths Wahl hat seiner Partei
viele Tausende gekostet. Zwar hat der Landtag von 1843 diese aristokratische
Verfassung zu einer demokratischen umgeschaffen, aber fast nur Juristen haben
davon Vortheil geballt. Selbst im Landtag von 1861 findet man fast nur
Adel und Juristen, bürgerliche Elemente sind sehr sparsam darin enthalten.
Auch wurden die alten Wahlmanöver vorgenommen, d. h. durch freie Zeche
gewann man sich einen Anhang, dieser besetzte am Wahltage rechtzeitig das
Wahllocal, prügelte die Gegenpartei aus demselben heraus oder ließ sie lieber
gleich gar nicht hinein. Denn die Parteien schaaren sich um eine Fahne, an


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[0074] sich dazu nicht hergeben, und gewisse Disciplinen verkümmern unter dieser Ob¬ hut des Krummstabes gänzlich. Das beliebteste Studium ist die Jurisprudenz, da diese nicht nur eine gut bezahlte Praxis (namhafte Advocaten verdienen sich 10—12000 Gulden jährlich), sondern auch Anrecht auf politische Carriere eröffnet. Die Jurateu, d. h. Studenten des Jus, haben daher auch eine bevorzugte Stellung, geben den Ton an, führen Demonstrationen aus, sind die beweglichen Colonnen der po¬ litischen Parteien. Nächst ihnen gibt es noch Mediciner in Menge, meist arme Burschen, die sich von Privatstunden und Hauslehrerposten ernähren. Unter ihnen findet man viele Juden. Die Philosophie ist auf's Gymnasium verwiesen, Mathematik auf polytechnische Schulen; an Universitäten dient sie nur als Aushilfe, da man ja keine Lehrer bildet. Frisches studentisches Le¬ ben bemerkt mau nicht, literarische Vereine scheinen unbekannt zu sein. Man studirt, wie man ein Handwerk lernt, um des Brotes willen. Das gesellige Leben beschränkt sich auf Kaffeetrinken, Gefrornesessen, Billardspielen und Po¬ litisiren. Würde man deutsche Lehr- und Lernfreiheit einführen und die Gym¬ nasien sücnlarisiren, das schulmäßige Beaufsichtiger, die jährlichen geistlosen Prüfungen des durchgemachten Cursus aufheben, so würde dem Lande unend¬ licher Nutzen daraus erwachsen. Was die politischen Verhältnisse und Parteien anlangt, so sind diese für das Ausland nicht ganz leicht zu begreifen. Ungarn hat die freieste Commu- nalversassung, aber diese kam bis 1848 nur dem Adel zu Gute, welcher als Gesetzgeber im Landtage saß und als Vcrwaltungs -, Polizei- und Gerichts- behörde die autonome Gemeinde autonom regierte. Der Bezirks- oder Stuhlrichter war sein Beamter, den Geistlichen wählte er, eine Appellation von seiner Ent¬ scheidung gab es nicht, mindestens war sie fruchtlos. Vom Bürger konnte er nur vor einem adligen Gericht verklagt worden. Diese autonomen Gemein¬ den hatten das Recht, jeden königlichen Erlaß, der ihnen illegal schien, aä g-ela. zu legen und sich mit Gewalt der Ausführung desselben zu widersetze». Diese Verfassung war demnach ein stehender Bürgerkrieg, wie in den Zeiten der mittelalterlichen Vasallen. Um in den Landtag zu kommen, wurden gro߬ artige Bestechungen angewandt, und selbst Kossuths Wahl hat seiner Partei viele Tausende gekostet. Zwar hat der Landtag von 1843 diese aristokratische Verfassung zu einer demokratischen umgeschaffen, aber fast nur Juristen haben davon Vortheil geballt. Selbst im Landtag von 1861 findet man fast nur Adel und Juristen, bürgerliche Elemente sind sehr sparsam darin enthalten. Auch wurden die alten Wahlmanöver vorgenommen, d. h. durch freie Zeche gewann man sich einen Anhang, dieser besetzte am Wahltage rechtzeitig das Wahllocal, prügelte die Gegenpartei aus demselben heraus oder ließ sie lieber gleich gar nicht hinein. Denn die Parteien schaaren sich um eine Fahne, an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/74>, abgerufen am 23.12.2024.