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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Besäße der Deutsche nur die Hälfte dieses glühenden Patriotismus, welche
Stellung würde Deutschland in der Weltgeschichte einnehmen! So mag dieser
ungarische Stolz für den ersten Augenblick etwas Zurückstoßendes haben; bei
näherer Betrachtung empfindet man Achtung und Zuneigung zu dem Volke.

Weil der Magyar sein Vaterland und seine Nation so hoch hält, hat er
es häufig unterlassen, den Fortschritten der westeuropäischen Civilisation zu
folgen. Um national zu bleiben, hat er manchem Gewinn und manchem
Comfort entsagt. Es mangelt dem Lande an guten Wegen, ja ganze Distrikte
sind nur zu gewissen Jahreszeiten zu bereisen. Der Fahrpostcn gibt es wenig,
Lohnkutschen gehen nur auf wenigen Hauptstraßen, weil die Mehrzahl der Be¬
wohner eignes Fuhrwerk hat. Wer reisen will, muß sich von Strecke zu
Strecke einen Bauernwagen miethen, und da die Wirthshäuser schlecht, schmutzig,
die Gasthöfe selbst in Städten selten reinlich gehalten sind, so hat sich die
Sitte erhalten, daß man beim ersten besten Pfarrer oder Gutsherrn einkehrt,
bei denen man freundliche Aufnahme findet, da diese Herrn in der Regel froh
sind, einmal einen Fremden zu sehen und Neuigkeiten zu erfahren. Trotzdem
ist das Reisen, wo nicht Eisenbahnen sind, sehr kostspielig und unbequem, so
daß die prachtvollen Gebirgslandschaften und die höchst romantischen Thäler
der Karpathen, ja ganze große Gebirgsdistrikte in der Mcumaros und
an der Grenze Siebenbürgens wenig bekannt sind. Von den zahlreichen
mineralischen Bädern des Landes werden kaum el" Dutzend besucht. Denn
wenn es auch Sitte ist, alljährlich während der heißen Jahreszeit zu verreisen,
wenn jedes Ehepaar nach der Hochzeit einen Ausflug zu machen pflegt, so
sucht man Deutschland, Belgien, die Schweiz, Paris und London auf. ja ver¬
irrt sich bis Norwegen; nach den Karpathen aber gehen nur wenige Einzelne,
nach Siebenbürgen nur etwa ein Naturforscher, in den Bakonyer Wald und
nach Kroatien Niemand.

Das starke Selbstgefühl, welches den Magyaren beseelt, gibt seinem Be¬
nehmen gegen Fremde oft etwas Abstoßendes. Er erscheint kalt und gemüth¬
los. Man findet daher auch nur ausnahmsweise bei der großen Masse des
Volles Gefälligkeit und Freundlichkeit. Fragen wir einen uns Begegnenden
nach dem Wege, so wird er antworten: ich weiß es nicht; erkundigen wir
uns bei dem Kaufmann, wo dies oder jenes Geschäft ist, so wird er ohne
Weiteres erwidern: ich weiß es nicht. Gerathen wir auf der Straße oder
sonst wo in Verlegenheit, Niemand wird zur Hilfe kommen. Selbst der Arzt
besucht nur solche Personen, die ihn gut und sofort bezahlen; die übrigen
müssen sich selbst curiren, weshalb auch Bauerfrauen u. a. mit allerlei Haus¬
mitteln Handel treiben und der geringere Handwerker eine kleine Apotheke im
Hause hält. Diese Gemüthlosigkeit zieht sich durch das ganze gesellige Leben.
Man grüßt nur Den, welchen man braucht; hat er seinen Dienst geleitet, so


Besäße der Deutsche nur die Hälfte dieses glühenden Patriotismus, welche
Stellung würde Deutschland in der Weltgeschichte einnehmen! So mag dieser
ungarische Stolz für den ersten Augenblick etwas Zurückstoßendes haben; bei
näherer Betrachtung empfindet man Achtung und Zuneigung zu dem Volke.

Weil der Magyar sein Vaterland und seine Nation so hoch hält, hat er
es häufig unterlassen, den Fortschritten der westeuropäischen Civilisation zu
folgen. Um national zu bleiben, hat er manchem Gewinn und manchem
Comfort entsagt. Es mangelt dem Lande an guten Wegen, ja ganze Distrikte
sind nur zu gewissen Jahreszeiten zu bereisen. Der Fahrpostcn gibt es wenig,
Lohnkutschen gehen nur auf wenigen Hauptstraßen, weil die Mehrzahl der Be¬
wohner eignes Fuhrwerk hat. Wer reisen will, muß sich von Strecke zu
Strecke einen Bauernwagen miethen, und da die Wirthshäuser schlecht, schmutzig,
die Gasthöfe selbst in Städten selten reinlich gehalten sind, so hat sich die
Sitte erhalten, daß man beim ersten besten Pfarrer oder Gutsherrn einkehrt,
bei denen man freundliche Aufnahme findet, da diese Herrn in der Regel froh
sind, einmal einen Fremden zu sehen und Neuigkeiten zu erfahren. Trotzdem
ist das Reisen, wo nicht Eisenbahnen sind, sehr kostspielig und unbequem, so
daß die prachtvollen Gebirgslandschaften und die höchst romantischen Thäler
der Karpathen, ja ganze große Gebirgsdistrikte in der Mcumaros und
an der Grenze Siebenbürgens wenig bekannt sind. Von den zahlreichen
mineralischen Bädern des Landes werden kaum el» Dutzend besucht. Denn
wenn es auch Sitte ist, alljährlich während der heißen Jahreszeit zu verreisen,
wenn jedes Ehepaar nach der Hochzeit einen Ausflug zu machen pflegt, so
sucht man Deutschland, Belgien, die Schweiz, Paris und London auf. ja ver¬
irrt sich bis Norwegen; nach den Karpathen aber gehen nur wenige Einzelne,
nach Siebenbürgen nur etwa ein Naturforscher, in den Bakonyer Wald und
nach Kroatien Niemand.

Das starke Selbstgefühl, welches den Magyaren beseelt, gibt seinem Be¬
nehmen gegen Fremde oft etwas Abstoßendes. Er erscheint kalt und gemüth¬
los. Man findet daher auch nur ausnahmsweise bei der großen Masse des
Volles Gefälligkeit und Freundlichkeit. Fragen wir einen uns Begegnenden
nach dem Wege, so wird er antworten: ich weiß es nicht; erkundigen wir
uns bei dem Kaufmann, wo dies oder jenes Geschäft ist, so wird er ohne
Weiteres erwidern: ich weiß es nicht. Gerathen wir auf der Straße oder
sonst wo in Verlegenheit, Niemand wird zur Hilfe kommen. Selbst der Arzt
besucht nur solche Personen, die ihn gut und sofort bezahlen; die übrigen
müssen sich selbst curiren, weshalb auch Bauerfrauen u. a. mit allerlei Haus¬
mitteln Handel treiben und der geringere Handwerker eine kleine Apotheke im
Hause hält. Diese Gemüthlosigkeit zieht sich durch das ganze gesellige Leben.
Man grüßt nur Den, welchen man braucht; hat er seinen Dienst geleitet, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/72>, abgerufen am 23.12.2024.