Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Der musikalische Unterricht ging zuweilen neben dem Elementarunterrichte
her; gewöhnlich aber begann er später. Ueber die Zulässigkeit der Tonkunst
als Unterrichtsgegenstand stimmen Aristoteles und Platon überein. Jener sagt,
der Zweck ihres Erlernens sei nickt bloß das Vergnügen, sondern auch die
würdige Ausfüllung der Mußestunden, und wenn die Musik auch nicht ein so
nothwendiges Bildungsmittel sei, als die Disciplinen des Grammatisten, so
müsse sie doch für ein schönes und dem Freien ziemendes gelten. Dieser aber
schreibt im Protagoras: "Wenn die Knaben das Citherspiel erlernen, werden
sie zugleich mit den Liedern guter lyrischer Dichter bekannt, müssen ihre Stimme
dem Saitenspiel anpassen und die Melodieen sich einprägen; dadurch gewöhnen
sie sich aber an rechtes Maaß und schöne Ordnung und werden geschickter in
Worten und Werken. Denn das ganze Leben des Menschen bedarf des Gleich¬
maaßes und der harmonischen Stimmung." Diesen Grundsätzen gemäß war
auch das Instrument, das die Knaben spielen lernten, die nur zur Begleitung
des Gesangs geeignete Lyra oder die kunstreicher construirte Kithara. Nach
den Perserkriegen wurde in Athen auch die Flöte beliebt; aber schon zu Ari¬
stoteles Zeit hatte man sich derselben wieder entwöhnt. Plutarch schreibt diese
Geschmacksänderung dem Alcibiades zu, der als Knabe den Ton unter seinen
Altersgenossen angegeben und die Flöte durchaus nicht lernen gewollt haben
soll, weil Jeder, der sie mit aufgeblasenen Wangen spiele, sein Gesicht so sehr
entstelle, daß ihn die vertrautesten Bekannten kaum erkannten. "Wir wollen
daher", schloß er, "die Flöte den Kindern der Thebaner überlassen, welche
nicht reden können, besonders da wir Athener Minerva und Apollo zu Schutz¬
göttern haben, von denen jene die Flöte weggeworfen, dieser aber den Flöten¬
spieler Marsyas geschunden hat." Wenn es nun aber auch von jedem Ge¬
bildeten ^verlangt wurde, daß er sich einige musikalische Bildung aneignete,
wenn es dem Themistokles sogar vorgeworfen werden konnte, daß er weder
die Lyra noch die Kithara zu spielen verstand, so durfte man auf der andern
Seite die Grenzen des Dilettanten nicht überschreiten; denn der Virtuose von
Profession ist ein Lohnarbeiter und steht dem niedrigsten Handwerker gleich.
"Schämst Du Dich nicht, so schön zu spielen?" sprach Philipp, der Macedonier,
zu seinem Sohne, als dieser nach allen Regeln der Kunst die Cither schlug.

Die systematische körperliche Ausbildung der Knaben hatte Förderung der
Gesundheit. Rüstigkeit und Schönheit zum Endzwecke und fußte auf der rich¬
tigen Ansicht, daß der Leib nicht geringeren Anspruch auf Vervollkommnung
habe, als der bei uns auf Kosten desselben einseitig gebildete Geist, und daß
auch die Seele in einem vernachlässigten Körper nicht leicht zur vollen Gesund¬
heit gedeihe. Diese Harmonie der physischen und psychischen Natur, diese
Entfaltung des ganzen Menschen suchte man nun von zarter Jugend an zu
erstreben, und während in den dorischen Staaten die Abhärtung des Körpers,


Der musikalische Unterricht ging zuweilen neben dem Elementarunterrichte
her; gewöhnlich aber begann er später. Ueber die Zulässigkeit der Tonkunst
als Unterrichtsgegenstand stimmen Aristoteles und Platon überein. Jener sagt,
der Zweck ihres Erlernens sei nickt bloß das Vergnügen, sondern auch die
würdige Ausfüllung der Mußestunden, und wenn die Musik auch nicht ein so
nothwendiges Bildungsmittel sei, als die Disciplinen des Grammatisten, so
müsse sie doch für ein schönes und dem Freien ziemendes gelten. Dieser aber
schreibt im Protagoras: „Wenn die Knaben das Citherspiel erlernen, werden
sie zugleich mit den Liedern guter lyrischer Dichter bekannt, müssen ihre Stimme
dem Saitenspiel anpassen und die Melodieen sich einprägen; dadurch gewöhnen
sie sich aber an rechtes Maaß und schöne Ordnung und werden geschickter in
Worten und Werken. Denn das ganze Leben des Menschen bedarf des Gleich¬
maaßes und der harmonischen Stimmung." Diesen Grundsätzen gemäß war
auch das Instrument, das die Knaben spielen lernten, die nur zur Begleitung
des Gesangs geeignete Lyra oder die kunstreicher construirte Kithara. Nach
den Perserkriegen wurde in Athen auch die Flöte beliebt; aber schon zu Ari¬
stoteles Zeit hatte man sich derselben wieder entwöhnt. Plutarch schreibt diese
Geschmacksänderung dem Alcibiades zu, der als Knabe den Ton unter seinen
Altersgenossen angegeben und die Flöte durchaus nicht lernen gewollt haben
soll, weil Jeder, der sie mit aufgeblasenen Wangen spiele, sein Gesicht so sehr
entstelle, daß ihn die vertrautesten Bekannten kaum erkannten. „Wir wollen
daher", schloß er, „die Flöte den Kindern der Thebaner überlassen, welche
nicht reden können, besonders da wir Athener Minerva und Apollo zu Schutz¬
göttern haben, von denen jene die Flöte weggeworfen, dieser aber den Flöten¬
spieler Marsyas geschunden hat." Wenn es nun aber auch von jedem Ge¬
bildeten ^verlangt wurde, daß er sich einige musikalische Bildung aneignete,
wenn es dem Themistokles sogar vorgeworfen werden konnte, daß er weder
die Lyra noch die Kithara zu spielen verstand, so durfte man auf der andern
Seite die Grenzen des Dilettanten nicht überschreiten; denn der Virtuose von
Profession ist ein Lohnarbeiter und steht dem niedrigsten Handwerker gleich.
„Schämst Du Dich nicht, so schön zu spielen?" sprach Philipp, der Macedonier,
zu seinem Sohne, als dieser nach allen Regeln der Kunst die Cither schlug.

Die systematische körperliche Ausbildung der Knaben hatte Förderung der
Gesundheit. Rüstigkeit und Schönheit zum Endzwecke und fußte auf der rich¬
tigen Ansicht, daß der Leib nicht geringeren Anspruch auf Vervollkommnung
habe, als der bei uns auf Kosten desselben einseitig gebildete Geist, und daß
auch die Seele in einem vernachlässigten Körper nicht leicht zur vollen Gesund¬
heit gedeihe. Diese Harmonie der physischen und psychischen Natur, diese
Entfaltung des ganzen Menschen suchte man nun von zarter Jugend an zu
erstreben, und während in den dorischen Staaten die Abhärtung des Körpers,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112028"/>
          <p xml:id="ID_218"> Der musikalische Unterricht ging zuweilen neben dem Elementarunterrichte<lb/>
her; gewöhnlich aber begann er später. Ueber die Zulässigkeit der Tonkunst<lb/>
als Unterrichtsgegenstand stimmen Aristoteles und Platon überein. Jener sagt,<lb/>
der Zweck ihres Erlernens sei nickt bloß das Vergnügen, sondern auch die<lb/>
würdige Ausfüllung der Mußestunden, und wenn die Musik auch nicht ein so<lb/>
nothwendiges Bildungsmittel sei, als die Disciplinen des Grammatisten, so<lb/>
müsse sie doch für ein schönes und dem Freien ziemendes gelten. Dieser aber<lb/>
schreibt im Protagoras: &#x201E;Wenn die Knaben das Citherspiel erlernen, werden<lb/>
sie zugleich mit den Liedern guter lyrischer Dichter bekannt, müssen ihre Stimme<lb/>
dem Saitenspiel anpassen und die Melodieen sich einprägen; dadurch gewöhnen<lb/>
sie sich aber an rechtes Maaß und schöne Ordnung und werden geschickter in<lb/>
Worten und Werken. Denn das ganze Leben des Menschen bedarf des Gleich¬<lb/>
maaßes und der harmonischen Stimmung." Diesen Grundsätzen gemäß war<lb/>
auch das Instrument, das die Knaben spielen lernten, die nur zur Begleitung<lb/>
des Gesangs geeignete Lyra oder die kunstreicher construirte Kithara. Nach<lb/>
den Perserkriegen wurde in Athen auch die Flöte beliebt; aber schon zu Ari¬<lb/>
stoteles Zeit hatte man sich derselben wieder entwöhnt. Plutarch schreibt diese<lb/>
Geschmacksänderung dem Alcibiades zu, der als Knabe den Ton unter seinen<lb/>
Altersgenossen angegeben und die Flöte durchaus nicht lernen gewollt haben<lb/>
soll, weil Jeder, der sie mit aufgeblasenen Wangen spiele, sein Gesicht so sehr<lb/>
entstelle, daß ihn die vertrautesten Bekannten kaum erkannten. &#x201E;Wir wollen<lb/>
daher", schloß er, &#x201E;die Flöte den Kindern der Thebaner überlassen, welche<lb/>
nicht reden können, besonders da wir Athener Minerva und Apollo zu Schutz¬<lb/>
göttern haben, von denen jene die Flöte weggeworfen, dieser aber den Flöten¬<lb/>
spieler Marsyas geschunden hat." Wenn es nun aber auch von jedem Ge¬<lb/>
bildeten ^verlangt wurde, daß er sich einige musikalische Bildung aneignete,<lb/>
wenn es dem Themistokles sogar vorgeworfen werden konnte, daß er weder<lb/>
die Lyra noch die Kithara zu spielen verstand, so durfte man auf der andern<lb/>
Seite die Grenzen des Dilettanten nicht überschreiten; denn der Virtuose von<lb/>
Profession ist ein Lohnarbeiter und steht dem niedrigsten Handwerker gleich.<lb/>
&#x201E;Schämst Du Dich nicht, so schön zu spielen?" sprach Philipp, der Macedonier,<lb/>
zu seinem Sohne, als dieser nach allen Regeln der Kunst die Cither schlug.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_219" next="#ID_220"> Die systematische körperliche Ausbildung der Knaben hatte Förderung der<lb/>
Gesundheit. Rüstigkeit und Schönheit zum Endzwecke und fußte auf der rich¬<lb/>
tigen Ansicht, daß der Leib nicht geringeren Anspruch auf Vervollkommnung<lb/>
habe, als der bei uns auf Kosten desselben einseitig gebildete Geist, und daß<lb/>
auch die Seele in einem vernachlässigten Körper nicht leicht zur vollen Gesund¬<lb/>
heit gedeihe. Diese Harmonie der physischen und psychischen Natur, diese<lb/>
Entfaltung des ganzen Menschen suchte man nun von zarter Jugend an zu<lb/>
erstreben, und während in den dorischen Staaten die Abhärtung des Körpers,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0058] Der musikalische Unterricht ging zuweilen neben dem Elementarunterrichte her; gewöhnlich aber begann er später. Ueber die Zulässigkeit der Tonkunst als Unterrichtsgegenstand stimmen Aristoteles und Platon überein. Jener sagt, der Zweck ihres Erlernens sei nickt bloß das Vergnügen, sondern auch die würdige Ausfüllung der Mußestunden, und wenn die Musik auch nicht ein so nothwendiges Bildungsmittel sei, als die Disciplinen des Grammatisten, so müsse sie doch für ein schönes und dem Freien ziemendes gelten. Dieser aber schreibt im Protagoras: „Wenn die Knaben das Citherspiel erlernen, werden sie zugleich mit den Liedern guter lyrischer Dichter bekannt, müssen ihre Stimme dem Saitenspiel anpassen und die Melodieen sich einprägen; dadurch gewöhnen sie sich aber an rechtes Maaß und schöne Ordnung und werden geschickter in Worten und Werken. Denn das ganze Leben des Menschen bedarf des Gleich¬ maaßes und der harmonischen Stimmung." Diesen Grundsätzen gemäß war auch das Instrument, das die Knaben spielen lernten, die nur zur Begleitung des Gesangs geeignete Lyra oder die kunstreicher construirte Kithara. Nach den Perserkriegen wurde in Athen auch die Flöte beliebt; aber schon zu Ari¬ stoteles Zeit hatte man sich derselben wieder entwöhnt. Plutarch schreibt diese Geschmacksänderung dem Alcibiades zu, der als Knabe den Ton unter seinen Altersgenossen angegeben und die Flöte durchaus nicht lernen gewollt haben soll, weil Jeder, der sie mit aufgeblasenen Wangen spiele, sein Gesicht so sehr entstelle, daß ihn die vertrautesten Bekannten kaum erkannten. „Wir wollen daher", schloß er, „die Flöte den Kindern der Thebaner überlassen, welche nicht reden können, besonders da wir Athener Minerva und Apollo zu Schutz¬ göttern haben, von denen jene die Flöte weggeworfen, dieser aber den Flöten¬ spieler Marsyas geschunden hat." Wenn es nun aber auch von jedem Ge¬ bildeten ^verlangt wurde, daß er sich einige musikalische Bildung aneignete, wenn es dem Themistokles sogar vorgeworfen werden konnte, daß er weder die Lyra noch die Kithara zu spielen verstand, so durfte man auf der andern Seite die Grenzen des Dilettanten nicht überschreiten; denn der Virtuose von Profession ist ein Lohnarbeiter und steht dem niedrigsten Handwerker gleich. „Schämst Du Dich nicht, so schön zu spielen?" sprach Philipp, der Macedonier, zu seinem Sohne, als dieser nach allen Regeln der Kunst die Cither schlug. Die systematische körperliche Ausbildung der Knaben hatte Förderung der Gesundheit. Rüstigkeit und Schönheit zum Endzwecke und fußte auf der rich¬ tigen Ansicht, daß der Leib nicht geringeren Anspruch auf Vervollkommnung habe, als der bei uns auf Kosten desselben einseitig gebildete Geist, und daß auch die Seele in einem vernachlässigten Körper nicht leicht zur vollen Gesund¬ heit gedeihe. Diese Harmonie der physischen und psychischen Natur, diese Entfaltung des ganzen Menschen suchte man nun von zarter Jugend an zu erstreben, und während in den dorischen Staaten die Abhärtung des Körpers,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/58
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/58>, abgerufen am 23.12.2024.