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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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schichte mit sinnigem Verständnisse einzudringen; der Mensch sollte ohne Weiteres
das Ideal einer abstracten Vollkommenheit verwirklichen, der Gedanke un¬
mittelbar in die That übergehen und alle Vermittlungen, individuellen Eigen¬
heiten, das endlose Spiel der Zufälle und Wechselwirkungen sah man nur
als Hindernisse an, die den schnurgrader Gang zu jenem Ziele aufhalten und
deshalb kurzweg auszurotten seien. Die Politik kannte nur öffentliche Men¬
schen, die ohne Persönlichkeit die unterschiedslosen Glieder des Staates waren;
ebenso faßte die Malerei den Menschen, was den Inhalt anbelangt, nur mit
dem Pathos eines öffentlichen Zweckes auf. was die Form betrifft, nur in
der normalen Vollendung seiner körperlichen Erscheinung. Insofern waren
beide gedankenhaft, absichtlich verschlossen gegen die Fülle und Mannichfaltig-
keit des natürlichen Lebens, gleichgültig ebensowol gegen die tieferen Bezüge
der menschlichen Seele, als gegen die vielfach gebrochene Außenseite der Er¬
scheinung. Daß die Malerei ihre bedeutsamen Motive fast nur noch im mo¬
numentalen Maßstabe gab, daß sie in der Darstellung des Menschen vor Allem
auf einen großen pathetischen Ausdruck und die Harmonie der Linie nach dem
Vorbild der antiken Form ausging, stimmt damit ganz überein.*) Selbst in
der Composition, um deretwillen David viel getadelt worden, zeigt sich diese
Richtung: die Beziehung der verschiedenen Individuen muß hinter der auf
sich beruhenden Selbständigkeit des Einzelnen zurücktreten, damit einerseits
nur das Verhältniß zum Gesammtwesen als die Bestimmung des Individu¬
ums klar sich ausdrücke, andrerseits die Form zur vollen Geltung komme.

. Auch äußerlich zeigt sich die Verwandtschaft und der wechselseitige Ein¬
fluß. Beide suchen, um in den Geist des Alterthums sich vollständig einzu¬
leben, auch dessen äußere Erscheinungsweise und Gebräuche sich anzueignen.
Die Kunst nimmt hier in ihre abstracte Idealität einen realistischen Zug auf,
ohne sich dessen bewußt zu werden. In dem Bilde des Brutus ist der Kopf
desselben nach einer Büste im Capital treu wiedergegeben; die Kleidung, die
Decoration des Zimmers, selbst die Möbel, für welche sich David eigens
Modelle anfertigen ließ, sind möglichst genau nach der Antike dargestellt. Das
Gemälde ward mit die Veranlassung, daß bald die höheren Klassen den Puder
mit dem freiwallenden Haar und das geschweifte, gewundene Geräthe des



') Einen interessanten Beitrag zu dem rücksichtslosen Eifer, mit dem man auf die antike
Form zurückging, bildet die Geschichte einer Secte. Je-s xenssurs oder xriuutits genannt, die
°us der Schule Davids herkamen. Es waren junge, zum Theil begabte Leute, d.e vor,
aller Kunst allein die Periode vor Phidias gelten lassen wollten und sich zum Grund ah
'"achten, sich i" die Betrachtung dieser Zeit ganz zu versenken um Aehnlrches hervor u-
Gingen, An der Spitze stand ein gewisser Maurice Quai, der Sänger .der k e.man Parte,,
der besonders diesen verherrlichte, war der junge Charles Robler, Es blieb fr-.Reh be. d r
Betrachtung; Werke sind keine entstanden. Immerhin ist die Secte bezeichnend für d.e ästhe¬
tische Anschauungsweise der Zeit.
Grenzboten III. 1861.

schichte mit sinnigem Verständnisse einzudringen; der Mensch sollte ohne Weiteres
das Ideal einer abstracten Vollkommenheit verwirklichen, der Gedanke un¬
mittelbar in die That übergehen und alle Vermittlungen, individuellen Eigen¬
heiten, das endlose Spiel der Zufälle und Wechselwirkungen sah man nur
als Hindernisse an, die den schnurgrader Gang zu jenem Ziele aufhalten und
deshalb kurzweg auszurotten seien. Die Politik kannte nur öffentliche Men¬
schen, die ohne Persönlichkeit die unterschiedslosen Glieder des Staates waren;
ebenso faßte die Malerei den Menschen, was den Inhalt anbelangt, nur mit
dem Pathos eines öffentlichen Zweckes auf. was die Form betrifft, nur in
der normalen Vollendung seiner körperlichen Erscheinung. Insofern waren
beide gedankenhaft, absichtlich verschlossen gegen die Fülle und Mannichfaltig-
keit des natürlichen Lebens, gleichgültig ebensowol gegen die tieferen Bezüge
der menschlichen Seele, als gegen die vielfach gebrochene Außenseite der Er¬
scheinung. Daß die Malerei ihre bedeutsamen Motive fast nur noch im mo¬
numentalen Maßstabe gab, daß sie in der Darstellung des Menschen vor Allem
auf einen großen pathetischen Ausdruck und die Harmonie der Linie nach dem
Vorbild der antiken Form ausging, stimmt damit ganz überein.*) Selbst in
der Composition, um deretwillen David viel getadelt worden, zeigt sich diese
Richtung: die Beziehung der verschiedenen Individuen muß hinter der auf
sich beruhenden Selbständigkeit des Einzelnen zurücktreten, damit einerseits
nur das Verhältniß zum Gesammtwesen als die Bestimmung des Individu¬
ums klar sich ausdrücke, andrerseits die Form zur vollen Geltung komme.

. Auch äußerlich zeigt sich die Verwandtschaft und der wechselseitige Ein¬
fluß. Beide suchen, um in den Geist des Alterthums sich vollständig einzu¬
leben, auch dessen äußere Erscheinungsweise und Gebräuche sich anzueignen.
Die Kunst nimmt hier in ihre abstracte Idealität einen realistischen Zug auf,
ohne sich dessen bewußt zu werden. In dem Bilde des Brutus ist der Kopf
desselben nach einer Büste im Capital treu wiedergegeben; die Kleidung, die
Decoration des Zimmers, selbst die Möbel, für welche sich David eigens
Modelle anfertigen ließ, sind möglichst genau nach der Antike dargestellt. Das
Gemälde ward mit die Veranlassung, daß bald die höheren Klassen den Puder
mit dem freiwallenden Haar und das geschweifte, gewundene Geräthe des



') Einen interessanten Beitrag zu dem rücksichtslosen Eifer, mit dem man auf die antike
Form zurückging, bildet die Geschichte einer Secte. Je-s xenssurs oder xriuutits genannt, die
°us der Schule Davids herkamen. Es waren junge, zum Theil begabte Leute, d.e vor,
aller Kunst allein die Periode vor Phidias gelten lassen wollten und sich zum Grund ah
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Gingen, An der Spitze stand ein gewisser Maurice Quai, der Sänger .der k e.man Parte,,
der besonders diesen verherrlichte, war der junge Charles Robler, Es blieb fr-.Reh be. d r
Betrachtung; Werke sind keine entstanden. Immerhin ist die Secte bezeichnend für d.e ästhe¬
tische Anschauungsweise der Zeit.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/507>, abgerufen am 23.12.2024.