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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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ungleich edler, als in dem Bilde, das, freilich großentheils durch seine eigene
Schuld, von ihm unsrer Generation überliefert ist. Schleiermacher's Biograph
wird die Aufgabe haben, von diesen rein persönlichen Beziehungen so viel an¬
zudeuten, als die Sache erlaubt; sein Werk wird nothwendig zugleich eine
Darstellung, beinahe Rettung Fr. Schlegel's sein müssen."

Nun frage ich jeden Unbefangenen: wer hat eher die Aufgabe, Fr.
Schlegel's Rechtfertigung zu unternehmen: der künftige Biograph Schleier¬
macher's oder der Herausgeber von Ackerstücken, in denen Fr. Schlegel einen
dreimal so breiten Raum einnimmt als Schleiermacher? Herr Dilthey ver¬
gißt einen, nach meiner Meinung sehr erheblichen Umstand. Da durch die
"Lucinde", "die vertrauten Briefe" und ähnliche sehr thörichte Expectorationcn
einmal das Publicum gewaltsam in das Privatleben der Romantiker hinein¬
gezogen wurde, da in Folge dessen die schwersten Anklagen grade diese Seite
ihres Lebens trafen, so scheint es mir, wenn es möglich ist, durch authentische
Mittheilungen diese Anklagen zu widerlegen, nicht nur erlaubt, sondern Pflicht
darauf einzugehn. Wie die Sachen stehen, erregt der Herausgeber durch Weg'
lassung der betreffenden, noch dazu sehr ausführlichen . Briefe den Verdacht,
die Sache seines Clienten stehe schlimmer, als er wünschen möchte. Da noch
ein vierter Band folgen soll, so erlaube ich mir den lebhaften Wunsch aus¬
zusprechen, daß diese Briefe nachträglich veröffentlicht werden, um so mehr,
da in nächster Zeit die Briefe von Karoline Schlegel zu erwarten sind, die
doch wol auch diese Sache berühren werden. Die sehr gerechte Scheu, durch
dergleichen Veröffentlichungen einem noch Lebenden Anstoß zu geben, kann
doch hier nicht gelten: es sind seitdem zwei Menschenalter vergangen, und es
ist hinlänglich Gras gewachsen über all diesen Geschichten. Was Schleier¬
macher's künftiger Biograph erzählen kann, ist doch nur aus zweiter Hand,
und wo man mit eignen Augen sehen kann, ist, es besser.

Noch eine andere Auslassung möchte ich nicht unbedingt billigen : die
Briefe, welche der Verfasser als vollkommen gleichgültig bezeichnet und welche-
wie es scheint, zum großen Theil Gcldverhültnisse betreffen. Diese Sache ist
gar nicht gleichgültig: einmal, weil in Bezug darauf über unser classisch^
Zeitalter noch immer die unsinnigsten Mythen verbreitet werden, weil z.
noch immer das Volk wie an ein Evangelium daran glaubt, daß Schiller
verhungert sei; sodann, weil in Fr. Schlegel's Entwicklung die Geldverhält¬
nisse eine sehr erhebliche Rolle spielen. Es ist freilich nicht das Zeichen eines
großen und starken Charakters, wenn man nicht im Stande ist, sich auf solide
Weise eine Existenz zu bereiten und in Folge dessen die realen Motive so >n
das Phantafteleven spielen läßt, daß man das Eine vom Andern nicht untel-
scheiden kann, aber ein großer und .starker Charakter war eben Fr. Schlegel
nicht. Bis .jetzt ist von der Geschichte seines. Uebertritts, nichts weiter bekannt,


ungleich edler, als in dem Bilde, das, freilich großentheils durch seine eigene
Schuld, von ihm unsrer Generation überliefert ist. Schleiermacher's Biograph
wird die Aufgabe haben, von diesen rein persönlichen Beziehungen so viel an¬
zudeuten, als die Sache erlaubt; sein Werk wird nothwendig zugleich eine
Darstellung, beinahe Rettung Fr. Schlegel's sein müssen."

Nun frage ich jeden Unbefangenen: wer hat eher die Aufgabe, Fr.
Schlegel's Rechtfertigung zu unternehmen: der künftige Biograph Schleier¬
macher's oder der Herausgeber von Ackerstücken, in denen Fr. Schlegel einen
dreimal so breiten Raum einnimmt als Schleiermacher? Herr Dilthey ver¬
gißt einen, nach meiner Meinung sehr erheblichen Umstand. Da durch die
„Lucinde", „die vertrauten Briefe" und ähnliche sehr thörichte Expectorationcn
einmal das Publicum gewaltsam in das Privatleben der Romantiker hinein¬
gezogen wurde, da in Folge dessen die schwersten Anklagen grade diese Seite
ihres Lebens trafen, so scheint es mir, wenn es möglich ist, durch authentische
Mittheilungen diese Anklagen zu widerlegen, nicht nur erlaubt, sondern Pflicht
darauf einzugehn. Wie die Sachen stehen, erregt der Herausgeber durch Weg'
lassung der betreffenden, noch dazu sehr ausführlichen . Briefe den Verdacht,
die Sache seines Clienten stehe schlimmer, als er wünschen möchte. Da noch
ein vierter Band folgen soll, so erlaube ich mir den lebhaften Wunsch aus¬
zusprechen, daß diese Briefe nachträglich veröffentlicht werden, um so mehr,
da in nächster Zeit die Briefe von Karoline Schlegel zu erwarten sind, die
doch wol auch diese Sache berühren werden. Die sehr gerechte Scheu, durch
dergleichen Veröffentlichungen einem noch Lebenden Anstoß zu geben, kann
doch hier nicht gelten: es sind seitdem zwei Menschenalter vergangen, und es
ist hinlänglich Gras gewachsen über all diesen Geschichten. Was Schleier¬
macher's künftiger Biograph erzählen kann, ist doch nur aus zweiter Hand,
und wo man mit eignen Augen sehen kann, ist, es besser.

Noch eine andere Auslassung möchte ich nicht unbedingt billigen : die
Briefe, welche der Verfasser als vollkommen gleichgültig bezeichnet und welche-
wie es scheint, zum großen Theil Gcldverhültnisse betreffen. Diese Sache ist
gar nicht gleichgültig: einmal, weil in Bezug darauf über unser classisch^
Zeitalter noch immer die unsinnigsten Mythen verbreitet werden, weil z.
noch immer das Volk wie an ein Evangelium daran glaubt, daß Schiller
verhungert sei; sodann, weil in Fr. Schlegel's Entwicklung die Geldverhält¬
nisse eine sehr erhebliche Rolle spielen. Es ist freilich nicht das Zeichen eines
großen und starken Charakters, wenn man nicht im Stande ist, sich auf solide
Weise eine Existenz zu bereiten und in Folge dessen die realen Motive so >n
das Phantafteleven spielen läßt, daß man das Eine vom Andern nicht untel-
scheiden kann, aber ein großer und .starker Charakter war eben Fr. Schlegel
nicht. Bis .jetzt ist von der Geschichte seines. Uebertritts, nichts weiter bekannt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/482>, abgerufen am 23.12.2024.