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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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durch schauerliche Motive zu erschüttern, die Theilnahme nicht zu erregen, son¬
dern zu erzwingen, so lerne man auch das Furchtbare in der wilden Heftig¬
keit der aufgerüttelten Naturkraft darstellen. Wir wollen im Ganzen die rea¬
listische Manier, die ihren Gegenstand in das heiße, verwirrende Gewühl der
Wirklichkeit versenkt, die ihn zur Erdenschwere herabzieht, nicht gut heißen;
auch der Maler, der sich den Sturm und Drang, die Noth und Qual, den
zerstörenden Kampf des Menschen mit einer ihm widerstrebenden Welt
zum Vorwurf nimmt, muß dies in die Idealität des künstlerischen Scheins
erheben. Nicht dadurch, daß er die Natur vergißt und an ihre Stelle eine
hergebrachte, ihr halbwegs ähnliche willkürlich zugeschnittene Form und Be¬
wegung setzt; sondern durch eine Behandlung, welche die ganze Kraft und
Fülle der Erscheinung wiedergibt und nur die störenden, trübenden, dabei für
die Sache gleichgiltigen Zufälle des wirklichen Momentes zu Gunsten der
künstlerischen Wirkung ausscheidet. Ein Musterbild für diesen Realismus ist
z. B. der bethlehemitiscke Kindermord von Rubens in der Münchner Pina¬
kothek. Die neueste französische Kunst -- wir haben hier vorerst nnr die
historische Richtung im Auge -- welche vor Allem durch die Wahrheit der
Erscheinung wirken will, hält zwar in den meisten Fällen das künstlerische
Maß nicht ein, sie findet anch in den rein zufälligen Eigenheiten, die im
Gedränge des wirklichen Vorgangs mit unterlaufen, einen charakteristischen
Ausdruck des Lebens, sie vermeidet nicht die capriciösen Linien der heftigen Be¬
wegung, den übertriebnen Aufwand der wild ausbrechenden Kraft, nicht das
breite Sich-Vordrängen der Nebendinge. Aber sie vernachlässigt darüber die
Züge nicht, in denen die handelnde oder leidende Natur zur vollen Erscheinung
kommt, nicht die energische Bewegtheit und Bestimmtheit, mit der dieselbe sich
äußert. Stellt sie nun Scenen dar, in denen die aufgerüttelte Kraft der
Menschlichen Natur sich zur Wildheit steigert, in denen die Leidenschaft und der
Kampf der entgegengesetzten Triebe bis zur blutigen Vernichtung führt, so
Mag auch wol der eine oder andere jener zufälligen Züge mit der Unruhe
der Wirklichkeit in das Bild mit übergehen, wenn nur aus demselben auch
das heftig aufgeregte Leben mächtig und entschieden spricht. Der deutsche
Realismus, wie er nun besonders von der Münchner Schule gepflegt wird,
wacht es eher umgekehrt: er sucht den naturwahce" Schein des Lebens in
Nebendingen und dem launischen Ausdruck des Momentes, während seine
Kunst zur Darstellung der von Kraft und Leidenschaft getriebenen, scharf
und voll heraustretenden Persönlichkeit nicht ausreicht. Es fehlen ihm freilich
dazu auch die Vorbedingungen des Handwerks.

Wie ein beliebiger geschichtlicher Vorgang zum blos malerischen Motiv in ^
äußerlichen Sinn werden kann, zeigt ein Bild von Joseph Barrias (einem
Maler von Ruf), das eine Episode aus der venetianischen Geschichte behandelt:


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durch schauerliche Motive zu erschüttern, die Theilnahme nicht zu erregen, son¬
dern zu erzwingen, so lerne man auch das Furchtbare in der wilden Heftig¬
keit der aufgerüttelten Naturkraft darstellen. Wir wollen im Ganzen die rea¬
listische Manier, die ihren Gegenstand in das heiße, verwirrende Gewühl der
Wirklichkeit versenkt, die ihn zur Erdenschwere herabzieht, nicht gut heißen;
auch der Maler, der sich den Sturm und Drang, die Noth und Qual, den
zerstörenden Kampf des Menschen mit einer ihm widerstrebenden Welt
zum Vorwurf nimmt, muß dies in die Idealität des künstlerischen Scheins
erheben. Nicht dadurch, daß er die Natur vergißt und an ihre Stelle eine
hergebrachte, ihr halbwegs ähnliche willkürlich zugeschnittene Form und Be¬
wegung setzt; sondern durch eine Behandlung, welche die ganze Kraft und
Fülle der Erscheinung wiedergibt und nur die störenden, trübenden, dabei für
die Sache gleichgiltigen Zufälle des wirklichen Momentes zu Gunsten der
künstlerischen Wirkung ausscheidet. Ein Musterbild für diesen Realismus ist
z. B. der bethlehemitiscke Kindermord von Rubens in der Münchner Pina¬
kothek. Die neueste französische Kunst — wir haben hier vorerst nnr die
historische Richtung im Auge — welche vor Allem durch die Wahrheit der
Erscheinung wirken will, hält zwar in den meisten Fällen das künstlerische
Maß nicht ein, sie findet anch in den rein zufälligen Eigenheiten, die im
Gedränge des wirklichen Vorgangs mit unterlaufen, einen charakteristischen
Ausdruck des Lebens, sie vermeidet nicht die capriciösen Linien der heftigen Be¬
wegung, den übertriebnen Aufwand der wild ausbrechenden Kraft, nicht das
breite Sich-Vordrängen der Nebendinge. Aber sie vernachlässigt darüber die
Züge nicht, in denen die handelnde oder leidende Natur zur vollen Erscheinung
kommt, nicht die energische Bewegtheit und Bestimmtheit, mit der dieselbe sich
äußert. Stellt sie nun Scenen dar, in denen die aufgerüttelte Kraft der
Menschlichen Natur sich zur Wildheit steigert, in denen die Leidenschaft und der
Kampf der entgegengesetzten Triebe bis zur blutigen Vernichtung führt, so
Mag auch wol der eine oder andere jener zufälligen Züge mit der Unruhe
der Wirklichkeit in das Bild mit übergehen, wenn nur aus demselben auch
das heftig aufgeregte Leben mächtig und entschieden spricht. Der deutsche
Realismus, wie er nun besonders von der Münchner Schule gepflegt wird,
wacht es eher umgekehrt: er sucht den naturwahce» Schein des Lebens in
Nebendingen und dem launischen Ausdruck des Momentes, während seine
Kunst zur Darstellung der von Kraft und Leidenschaft getriebenen, scharf
und voll heraustretenden Persönlichkeit nicht ausreicht. Es fehlen ihm freilich
dazu auch die Vorbedingungen des Handwerks.

Wie ein beliebiger geschichtlicher Vorgang zum blos malerischen Motiv in ^
äußerlichen Sinn werden kann, zeigt ein Bild von Joseph Barrias (einem
Maler von Ruf), das eine Episode aus der venetianischen Geschichte behandelt:


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[0461] durch schauerliche Motive zu erschüttern, die Theilnahme nicht zu erregen, son¬ dern zu erzwingen, so lerne man auch das Furchtbare in der wilden Heftig¬ keit der aufgerüttelten Naturkraft darstellen. Wir wollen im Ganzen die rea¬ listische Manier, die ihren Gegenstand in das heiße, verwirrende Gewühl der Wirklichkeit versenkt, die ihn zur Erdenschwere herabzieht, nicht gut heißen; auch der Maler, der sich den Sturm und Drang, die Noth und Qual, den zerstörenden Kampf des Menschen mit einer ihm widerstrebenden Welt zum Vorwurf nimmt, muß dies in die Idealität des künstlerischen Scheins erheben. Nicht dadurch, daß er die Natur vergißt und an ihre Stelle eine hergebrachte, ihr halbwegs ähnliche willkürlich zugeschnittene Form und Be¬ wegung setzt; sondern durch eine Behandlung, welche die ganze Kraft und Fülle der Erscheinung wiedergibt und nur die störenden, trübenden, dabei für die Sache gleichgiltigen Zufälle des wirklichen Momentes zu Gunsten der künstlerischen Wirkung ausscheidet. Ein Musterbild für diesen Realismus ist z. B. der bethlehemitiscke Kindermord von Rubens in der Münchner Pina¬ kothek. Die neueste französische Kunst — wir haben hier vorerst nnr die historische Richtung im Auge — welche vor Allem durch die Wahrheit der Erscheinung wirken will, hält zwar in den meisten Fällen das künstlerische Maß nicht ein, sie findet anch in den rein zufälligen Eigenheiten, die im Gedränge des wirklichen Vorgangs mit unterlaufen, einen charakteristischen Ausdruck des Lebens, sie vermeidet nicht die capriciösen Linien der heftigen Be¬ wegung, den übertriebnen Aufwand der wild ausbrechenden Kraft, nicht das breite Sich-Vordrängen der Nebendinge. Aber sie vernachlässigt darüber die Züge nicht, in denen die handelnde oder leidende Natur zur vollen Erscheinung kommt, nicht die energische Bewegtheit und Bestimmtheit, mit der dieselbe sich äußert. Stellt sie nun Scenen dar, in denen die aufgerüttelte Kraft der Menschlichen Natur sich zur Wildheit steigert, in denen die Leidenschaft und der Kampf der entgegengesetzten Triebe bis zur blutigen Vernichtung führt, so Mag auch wol der eine oder andere jener zufälligen Züge mit der Unruhe der Wirklichkeit in das Bild mit übergehen, wenn nur aus demselben auch das heftig aufgeregte Leben mächtig und entschieden spricht. Der deutsche Realismus, wie er nun besonders von der Münchner Schule gepflegt wird, wacht es eher umgekehrt: er sucht den naturwahce» Schein des Lebens in Nebendingen und dem launischen Ausdruck des Momentes, während seine Kunst zur Darstellung der von Kraft und Leidenschaft getriebenen, scharf und voll heraustretenden Persönlichkeit nicht ausreicht. Es fehlen ihm freilich dazu auch die Vorbedingungen des Handwerks. Wie ein beliebiger geschichtlicher Vorgang zum blos malerischen Motiv in ^ äußerlichen Sinn werden kann, zeigt ein Bild von Joseph Barrias (einem Maler von Ruf), das eine Episode aus der venetianischen Geschichte behandelt: 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/461>, abgerufen am 22.07.2024.