Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

vorsichtigen als unternehmenden Nachbars nach dieser Seite hin einen günsti¬
gen Spielraum zu eröffnen.

Die Eigenthümlichkeit in Napoleons Politik liegt darin, daß er nicht ei¬
nen einseitigen Zweck verfolgt, sondern gleichzeitig nach allen Seiten späht,
um jeden günstigen Zeitpunkt zu benutzen, gleichviel ob er mit seinem vor¬
herigen Schritte zusammenzuhängen scheint oder nicht. Seine Rüstungen sind je¬
der Art von Unternehmung gerecht; seine Verbindungen verzweigen sich durch
alle Staaten und Parteien Europas, überall erhält er eine offene Wunde, die
er bei günstiger Gelegenheit zu heilen beanspruchen kann, überall sieht er aber
sorgfältig darauf, daß nicht durch ein unzeitiges Vorgehen Frankreich eine Koa¬
lition gegen sich hervorruft.

Zu Anfang des vorigen Jahres sah er einer solchen Coalition mit Be-
sorgniß entgegen. Zwar stand er mit Sardinien, mit England und Rußland
im Bündniß, aber der erstere Staat brachte ihm für den Augenblick mehr
Verlegenheit als Nutzen, und die beiden andern waren doch nur in dem Sinn
Verbündete, daß sie ihn gewissermaßen mit dem Revolver in der Hand im
Auge hatten, um jedem plötzlichen Angriff zuvorzukommen. Oestreich machte
ernsthafte Anstrengungen, sich ihm zu nähern, er ging aber nicht darauf ein,
vermuthlich weil er in der Stütze, die ihm dieser Staat gewähren konnte,
kein Verhältniß zu den Gefahren sah, welchen ihn ein Bündniß mit der Legi¬
timität preisgeben mußte.

Er versuchte seinerseits, und zwar mit einer Lebhaftigkeit, wie sie selten
ein Souverän gezeigt hat, eine Annäherung an Preußen. Aus welchen Grund¬
lagen er sich zu verstündigen gedachte (die bekannten russischen Projecte hatte
er schon vorher entschieden desavouirt), weiß Niemand als er selbst; denn
man ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es wurde ihm die schroffste Zurück¬
weisung zu Theil, die innerhalb des diplomatischen Verkehrs denkbar ist.

Als nächste Folge vermuthete man nun, nachdem Preußen seine Stellung
offen demasquirt. eine Verständigung zwischen Oestreich und Preußen, eine
Einigung derselben mit ihren deutschen Bundesgenossen und weiter eine Koa¬
lition mit Rußland und England. In der That wurde ein großer Anlauf
gemacht: es ist aber bekannt, daß alle diese Versuche gescheitert sind.

Was die auswärtigen Mächte betrifft, so eröffnete zunächst Rußland dem
Kaiser Napoleon, daß es nicht gemeint sei, seinen Gegnern irgendwie Vorschub
zu leisten; es wolle nur aufs Freundschaftlichste die Beschwerden und Willens¬
meinungen derselben vor sein Ohr bringen. Da wäre denn freilich der kürzere
Weg gewesen, wenn man sie ihm in Baden kund gethan. England, um
nur ja nicht in Verdacht zu gerathen, mit Preußen gegen Frankreich zu con-
spiriren, begann jene Reihe brutaler Insulten, wie man sie früher nur gegen
Tunis, Neapel oder Griechenland ausgeübt. Capitün Macdonald wurde da-


vorsichtigen als unternehmenden Nachbars nach dieser Seite hin einen günsti¬
gen Spielraum zu eröffnen.

Die Eigenthümlichkeit in Napoleons Politik liegt darin, daß er nicht ei¬
nen einseitigen Zweck verfolgt, sondern gleichzeitig nach allen Seiten späht,
um jeden günstigen Zeitpunkt zu benutzen, gleichviel ob er mit seinem vor¬
herigen Schritte zusammenzuhängen scheint oder nicht. Seine Rüstungen sind je¬
der Art von Unternehmung gerecht; seine Verbindungen verzweigen sich durch
alle Staaten und Parteien Europas, überall erhält er eine offene Wunde, die
er bei günstiger Gelegenheit zu heilen beanspruchen kann, überall sieht er aber
sorgfältig darauf, daß nicht durch ein unzeitiges Vorgehen Frankreich eine Koa¬
lition gegen sich hervorruft.

Zu Anfang des vorigen Jahres sah er einer solchen Coalition mit Be-
sorgniß entgegen. Zwar stand er mit Sardinien, mit England und Rußland
im Bündniß, aber der erstere Staat brachte ihm für den Augenblick mehr
Verlegenheit als Nutzen, und die beiden andern waren doch nur in dem Sinn
Verbündete, daß sie ihn gewissermaßen mit dem Revolver in der Hand im
Auge hatten, um jedem plötzlichen Angriff zuvorzukommen. Oestreich machte
ernsthafte Anstrengungen, sich ihm zu nähern, er ging aber nicht darauf ein,
vermuthlich weil er in der Stütze, die ihm dieser Staat gewähren konnte,
kein Verhältniß zu den Gefahren sah, welchen ihn ein Bündniß mit der Legi¬
timität preisgeben mußte.

Er versuchte seinerseits, und zwar mit einer Lebhaftigkeit, wie sie selten
ein Souverän gezeigt hat, eine Annäherung an Preußen. Aus welchen Grund¬
lagen er sich zu verstündigen gedachte (die bekannten russischen Projecte hatte
er schon vorher entschieden desavouirt), weiß Niemand als er selbst; denn
man ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es wurde ihm die schroffste Zurück¬
weisung zu Theil, die innerhalb des diplomatischen Verkehrs denkbar ist.

Als nächste Folge vermuthete man nun, nachdem Preußen seine Stellung
offen demasquirt. eine Verständigung zwischen Oestreich und Preußen, eine
Einigung derselben mit ihren deutschen Bundesgenossen und weiter eine Koa¬
lition mit Rußland und England. In der That wurde ein großer Anlauf
gemacht: es ist aber bekannt, daß alle diese Versuche gescheitert sind.

Was die auswärtigen Mächte betrifft, so eröffnete zunächst Rußland dem
Kaiser Napoleon, daß es nicht gemeint sei, seinen Gegnern irgendwie Vorschub
zu leisten; es wolle nur aufs Freundschaftlichste die Beschwerden und Willens¬
meinungen derselben vor sein Ohr bringen. Da wäre denn freilich der kürzere
Weg gewesen, wenn man sie ihm in Baden kund gethan. England, um
nur ja nicht in Verdacht zu gerathen, mit Preußen gegen Frankreich zu con-
spiriren, begann jene Reihe brutaler Insulten, wie man sie früher nur gegen
Tunis, Neapel oder Griechenland ausgeübt. Capitün Macdonald wurde da-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0044" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112014"/>
          <p xml:id="ID_172" prev="#ID_171"> vorsichtigen als unternehmenden Nachbars nach dieser Seite hin einen günsti¬<lb/>
gen Spielraum zu eröffnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_173"> Die Eigenthümlichkeit in Napoleons Politik liegt darin, daß er nicht ei¬<lb/>
nen einseitigen Zweck verfolgt, sondern gleichzeitig nach allen Seiten späht,<lb/>
um jeden günstigen Zeitpunkt zu benutzen, gleichviel ob er mit seinem vor¬<lb/>
herigen Schritte zusammenzuhängen scheint oder nicht. Seine Rüstungen sind je¬<lb/>
der Art von Unternehmung gerecht; seine Verbindungen verzweigen sich durch<lb/>
alle Staaten und Parteien Europas, überall erhält er eine offene Wunde, die<lb/>
er bei günstiger Gelegenheit zu heilen beanspruchen kann, überall sieht er aber<lb/>
sorgfältig darauf, daß nicht durch ein unzeitiges Vorgehen Frankreich eine Koa¬<lb/>
lition gegen sich hervorruft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_174"> Zu Anfang des vorigen Jahres sah er einer solchen Coalition mit Be-<lb/>
sorgniß entgegen. Zwar stand er mit Sardinien, mit England und Rußland<lb/>
im Bündniß, aber der erstere Staat brachte ihm für den Augenblick mehr<lb/>
Verlegenheit als Nutzen, und die beiden andern waren doch nur in dem Sinn<lb/>
Verbündete, daß sie ihn gewissermaßen mit dem Revolver in der Hand im<lb/>
Auge hatten, um jedem plötzlichen Angriff zuvorzukommen. Oestreich machte<lb/>
ernsthafte Anstrengungen, sich ihm zu nähern, er ging aber nicht darauf ein,<lb/>
vermuthlich weil er in der Stütze, die ihm dieser Staat gewähren konnte,<lb/>
kein Verhältniß zu den Gefahren sah, welchen ihn ein Bündniß mit der Legi¬<lb/>
timität preisgeben mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_175"> Er versuchte seinerseits, und zwar mit einer Lebhaftigkeit, wie sie selten<lb/>
ein Souverän gezeigt hat, eine Annäherung an Preußen. Aus welchen Grund¬<lb/>
lagen er sich zu verstündigen gedachte (die bekannten russischen Projecte hatte<lb/>
er schon vorher entschieden desavouirt), weiß Niemand als er selbst; denn<lb/>
man ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es wurde ihm die schroffste Zurück¬<lb/>
weisung zu Theil, die innerhalb des diplomatischen Verkehrs denkbar ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_176"> Als nächste Folge vermuthete man nun, nachdem Preußen seine Stellung<lb/>
offen demasquirt. eine Verständigung zwischen Oestreich und Preußen, eine<lb/>
Einigung derselben mit ihren deutschen Bundesgenossen und weiter eine Koa¬<lb/>
lition mit Rußland und England. In der That wurde ein großer Anlauf<lb/>
gemacht: es ist aber bekannt, daß alle diese Versuche gescheitert sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_177" next="#ID_178"> Was die auswärtigen Mächte betrifft, so eröffnete zunächst Rußland dem<lb/>
Kaiser Napoleon, daß es nicht gemeint sei, seinen Gegnern irgendwie Vorschub<lb/>
zu leisten; es wolle nur aufs Freundschaftlichste die Beschwerden und Willens¬<lb/>
meinungen derselben vor sein Ohr bringen. Da wäre denn freilich der kürzere<lb/>
Weg gewesen, wenn man sie ihm in Baden kund gethan. England, um<lb/>
nur ja nicht in Verdacht zu gerathen, mit Preußen gegen Frankreich zu con-<lb/>
spiriren, begann jene Reihe brutaler Insulten, wie man sie früher nur gegen<lb/>
Tunis, Neapel oder Griechenland ausgeübt. Capitün Macdonald wurde da-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0044] vorsichtigen als unternehmenden Nachbars nach dieser Seite hin einen günsti¬ gen Spielraum zu eröffnen. Die Eigenthümlichkeit in Napoleons Politik liegt darin, daß er nicht ei¬ nen einseitigen Zweck verfolgt, sondern gleichzeitig nach allen Seiten späht, um jeden günstigen Zeitpunkt zu benutzen, gleichviel ob er mit seinem vor¬ herigen Schritte zusammenzuhängen scheint oder nicht. Seine Rüstungen sind je¬ der Art von Unternehmung gerecht; seine Verbindungen verzweigen sich durch alle Staaten und Parteien Europas, überall erhält er eine offene Wunde, die er bei günstiger Gelegenheit zu heilen beanspruchen kann, überall sieht er aber sorgfältig darauf, daß nicht durch ein unzeitiges Vorgehen Frankreich eine Koa¬ lition gegen sich hervorruft. Zu Anfang des vorigen Jahres sah er einer solchen Coalition mit Be- sorgniß entgegen. Zwar stand er mit Sardinien, mit England und Rußland im Bündniß, aber der erstere Staat brachte ihm für den Augenblick mehr Verlegenheit als Nutzen, und die beiden andern waren doch nur in dem Sinn Verbündete, daß sie ihn gewissermaßen mit dem Revolver in der Hand im Auge hatten, um jedem plötzlichen Angriff zuvorzukommen. Oestreich machte ernsthafte Anstrengungen, sich ihm zu nähern, er ging aber nicht darauf ein, vermuthlich weil er in der Stütze, die ihm dieser Staat gewähren konnte, kein Verhältniß zu den Gefahren sah, welchen ihn ein Bündniß mit der Legi¬ timität preisgeben mußte. Er versuchte seinerseits, und zwar mit einer Lebhaftigkeit, wie sie selten ein Souverän gezeigt hat, eine Annäherung an Preußen. Aus welchen Grund¬ lagen er sich zu verstündigen gedachte (die bekannten russischen Projecte hatte er schon vorher entschieden desavouirt), weiß Niemand als er selbst; denn man ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es wurde ihm die schroffste Zurück¬ weisung zu Theil, die innerhalb des diplomatischen Verkehrs denkbar ist. Als nächste Folge vermuthete man nun, nachdem Preußen seine Stellung offen demasquirt. eine Verständigung zwischen Oestreich und Preußen, eine Einigung derselben mit ihren deutschen Bundesgenossen und weiter eine Koa¬ lition mit Rußland und England. In der That wurde ein großer Anlauf gemacht: es ist aber bekannt, daß alle diese Versuche gescheitert sind. Was die auswärtigen Mächte betrifft, so eröffnete zunächst Rußland dem Kaiser Napoleon, daß es nicht gemeint sei, seinen Gegnern irgendwie Vorschub zu leisten; es wolle nur aufs Freundschaftlichste die Beschwerden und Willens¬ meinungen derselben vor sein Ohr bringen. Da wäre denn freilich der kürzere Weg gewesen, wenn man sie ihm in Baden kund gethan. England, um nur ja nicht in Verdacht zu gerathen, mit Preußen gegen Frankreich zu con- spiriren, begann jene Reihe brutaler Insulten, wie man sie früher nur gegen Tunis, Neapel oder Griechenland ausgeübt. Capitün Macdonald wurde da-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/44
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/44>, abgerufen am 22.07.2024.