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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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der Kirche jagte und ihr gebot, sich an ihre Ohren zu erinnern und nicht
wieder das Heiligthum durch ihren Gesang zum Preise des Höchsten zu ent¬
weihen.

Gleichen Erfolg wie alle Versuche den Cagots eine bessere Stellung in
der Gesellschaft zu verschaffen hatten auch die Untersuchungen und Berichte
des Dr. Guyon. Denn obschon er überzeugend dargethan, daß ganz und
gar kein physischer Grund vorliege, aus welchem den Cagots die gleichen
Rechte mit der übrigen Welt verweigert werden sollten, so konnte er doch
Leute nicht überzeugen, die sich nicht überzeugen lassen wollten, ja wie fast
stets in solchen Füllen, steigerte sich der Abscheu immer mehr und ward am
heftigsten kurz vor der großen französischen Revolution. Selbst bei den gebil¬
deten Leuten jener Zeit war das Vorurtheil nicht auszurotten. Im Jahre
1780 ungefähr lebte zu Lourdes ein Abbe mit Namen d'Abedos, der Bruder
des Herrn vom benachbarten Schlosse. Obgleich er für seine Zeit eine sehr
gute Erziehung genossen und weite Reisen gemacht hatte, außerdem auch ein
gefühlvoller und in jeder Weise toleranter Mann war, so besaß er doch einen
so grenzenlosen Abscheu vor den Cagots, daß er sie sogar bis in die Kirche
damit verfolgte und von der Kanzel aus gegen sie eiferte. Als unter Anderm
ein halbblinder Cagot eines Tages in der Kirche stolperte und dabei das vor
dem Avb6 hergetragene Rauchfaß berührte, ließ er ihn hinausjagen, und ver¬
bot ihm das Gotteshaus je wieder zu betreten. Höchst merkwürdig ist es,
daß gerade der Bruder dieses bigotten Geistlichen, der Seigneur von Lourdes,
ein Cagotmädchen zur Frau nahm. Aufs Aeußerste darüber aufgebracht, leitete
jener gegen seinen Bruder einen Proceß ein, durch den dieser, in Folge der
alten, in Bezug aus die Cagots noch bestehenden Gesetze, seine Besitzungen
verlor, da er sich zum Cagot erniedrigt habe. Bis aus den heutigen Tag
sind die Nachkommen jenes Herrn von Lourdes einfache Bauern auf den Län¬
dereien, die einst ihren Vorfahren zugehörten.

Noch bis in unsere Zeit herein hat sich das Vorurtheil gegen die Cagots
wehr oder weniger erhalten, und die Landbewohner wissen gewöhnlich genau,
dessen Vorfahren Cngotischer Abkunft gewesen. Vor noch nicht langen Jah-
5en ließ in der Bretagne ein Mädchen, die zwei Liebhaber, beide Cagotischer
Herkunft, hatte, deren Stammbäume durch einen Notar untersuchen, und reichte
ihre Hand, der das wenigste Cagotblut besaß. Ueberhaupt scheint in der
Bretagne das Vorurtheil stärker gewesen zu sein als sonst wo. Es ist noch
">ehe gar zu lange her, daß, ein Bretagnischer Bäcker, der ein Mädchen heira¬
tete, dessen Cagotische Abstammung bekannt war, seine sämmtliche Kund¬
schaft dadurch verlor. Pathe und Pathin eines Cagotkindes wurden nach
Bretagnischen Gesetzen ebenfalls Cagots, wenn nicht das Kind binnen


Grenzboten III. 1861. 54

der Kirche jagte und ihr gebot, sich an ihre Ohren zu erinnern und nicht
wieder das Heiligthum durch ihren Gesang zum Preise des Höchsten zu ent¬
weihen.

Gleichen Erfolg wie alle Versuche den Cagots eine bessere Stellung in
der Gesellschaft zu verschaffen hatten auch die Untersuchungen und Berichte
des Dr. Guyon. Denn obschon er überzeugend dargethan, daß ganz und
gar kein physischer Grund vorliege, aus welchem den Cagots die gleichen
Rechte mit der übrigen Welt verweigert werden sollten, so konnte er doch
Leute nicht überzeugen, die sich nicht überzeugen lassen wollten, ja wie fast
stets in solchen Füllen, steigerte sich der Abscheu immer mehr und ward am
heftigsten kurz vor der großen französischen Revolution. Selbst bei den gebil¬
deten Leuten jener Zeit war das Vorurtheil nicht auszurotten. Im Jahre
1780 ungefähr lebte zu Lourdes ein Abbe mit Namen d'Abedos, der Bruder
des Herrn vom benachbarten Schlosse. Obgleich er für seine Zeit eine sehr
gute Erziehung genossen und weite Reisen gemacht hatte, außerdem auch ein
gefühlvoller und in jeder Weise toleranter Mann war, so besaß er doch einen
so grenzenlosen Abscheu vor den Cagots, daß er sie sogar bis in die Kirche
damit verfolgte und von der Kanzel aus gegen sie eiferte. Als unter Anderm
ein halbblinder Cagot eines Tages in der Kirche stolperte und dabei das vor
dem Avb6 hergetragene Rauchfaß berührte, ließ er ihn hinausjagen, und ver¬
bot ihm das Gotteshaus je wieder zu betreten. Höchst merkwürdig ist es,
daß gerade der Bruder dieses bigotten Geistlichen, der Seigneur von Lourdes,
ein Cagotmädchen zur Frau nahm. Aufs Aeußerste darüber aufgebracht, leitete
jener gegen seinen Bruder einen Proceß ein, durch den dieser, in Folge der
alten, in Bezug aus die Cagots noch bestehenden Gesetze, seine Besitzungen
verlor, da er sich zum Cagot erniedrigt habe. Bis aus den heutigen Tag
sind die Nachkommen jenes Herrn von Lourdes einfache Bauern auf den Län¬
dereien, die einst ihren Vorfahren zugehörten.

Noch bis in unsere Zeit herein hat sich das Vorurtheil gegen die Cagots
wehr oder weniger erhalten, und die Landbewohner wissen gewöhnlich genau,
dessen Vorfahren Cngotischer Abkunft gewesen. Vor noch nicht langen Jah-
5en ließ in der Bretagne ein Mädchen, die zwei Liebhaber, beide Cagotischer
Herkunft, hatte, deren Stammbäume durch einen Notar untersuchen, und reichte
ihre Hand, der das wenigste Cagotblut besaß. Ueberhaupt scheint in der
Bretagne das Vorurtheil stärker gewesen zu sein als sonst wo. Es ist noch
">ehe gar zu lange her, daß, ein Bretagnischer Bäcker, der ein Mädchen heira¬
tete, dessen Cagotische Abstammung bekannt war, seine sämmtliche Kund¬
schaft dadurch verlor. Pathe und Pathin eines Cagotkindes wurden nach
Bretagnischen Gesetzen ebenfalls Cagots, wenn nicht das Kind binnen


Grenzboten III. 1861. 54
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[0435] der Kirche jagte und ihr gebot, sich an ihre Ohren zu erinnern und nicht wieder das Heiligthum durch ihren Gesang zum Preise des Höchsten zu ent¬ weihen. Gleichen Erfolg wie alle Versuche den Cagots eine bessere Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen hatten auch die Untersuchungen und Berichte des Dr. Guyon. Denn obschon er überzeugend dargethan, daß ganz und gar kein physischer Grund vorliege, aus welchem den Cagots die gleichen Rechte mit der übrigen Welt verweigert werden sollten, so konnte er doch Leute nicht überzeugen, die sich nicht überzeugen lassen wollten, ja wie fast stets in solchen Füllen, steigerte sich der Abscheu immer mehr und ward am heftigsten kurz vor der großen französischen Revolution. Selbst bei den gebil¬ deten Leuten jener Zeit war das Vorurtheil nicht auszurotten. Im Jahre 1780 ungefähr lebte zu Lourdes ein Abbe mit Namen d'Abedos, der Bruder des Herrn vom benachbarten Schlosse. Obgleich er für seine Zeit eine sehr gute Erziehung genossen und weite Reisen gemacht hatte, außerdem auch ein gefühlvoller und in jeder Weise toleranter Mann war, so besaß er doch einen so grenzenlosen Abscheu vor den Cagots, daß er sie sogar bis in die Kirche damit verfolgte und von der Kanzel aus gegen sie eiferte. Als unter Anderm ein halbblinder Cagot eines Tages in der Kirche stolperte und dabei das vor dem Avb6 hergetragene Rauchfaß berührte, ließ er ihn hinausjagen, und ver¬ bot ihm das Gotteshaus je wieder zu betreten. Höchst merkwürdig ist es, daß gerade der Bruder dieses bigotten Geistlichen, der Seigneur von Lourdes, ein Cagotmädchen zur Frau nahm. Aufs Aeußerste darüber aufgebracht, leitete jener gegen seinen Bruder einen Proceß ein, durch den dieser, in Folge der alten, in Bezug aus die Cagots noch bestehenden Gesetze, seine Besitzungen verlor, da er sich zum Cagot erniedrigt habe. Bis aus den heutigen Tag sind die Nachkommen jenes Herrn von Lourdes einfache Bauern auf den Län¬ dereien, die einst ihren Vorfahren zugehörten. Noch bis in unsere Zeit herein hat sich das Vorurtheil gegen die Cagots wehr oder weniger erhalten, und die Landbewohner wissen gewöhnlich genau, dessen Vorfahren Cngotischer Abkunft gewesen. Vor noch nicht langen Jah- 5en ließ in der Bretagne ein Mädchen, die zwei Liebhaber, beide Cagotischer Herkunft, hatte, deren Stammbäume durch einen Notar untersuchen, und reichte ihre Hand, der das wenigste Cagotblut besaß. Ueberhaupt scheint in der Bretagne das Vorurtheil stärker gewesen zu sein als sonst wo. Es ist noch ">ehe gar zu lange her, daß, ein Bretagnischer Bäcker, der ein Mädchen heira¬ tete, dessen Cagotische Abstammung bekannt war, seine sämmtliche Kund¬ schaft dadurch verlor. Pathe und Pathin eines Cagotkindes wurden nach Bretagnischen Gesetzen ebenfalls Cagots, wenn nicht das Kind binnen Grenzboten III. 1861. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/435>, abgerufen am 22.07.2024.