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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Rechtfertigten aber, so ist man zu fragen genöthigt, die Cagots diesen
Abscheu, diese Furcht? waren sie wirklich Aussätzige? Keineswegs; nicht die
geringste Spur des Aussatzes oder einer ähnlichen Krankheit zeigie sich an
ihnen. Gelehrte Aerzte stellten zu verschiedenen Zeiten Untersuchungen mit
ihnen an, um den Ungrund des Volksabcrglciubens zu beweisen. So ließe"
z. B. im Jahre 1600 die Wundärzte des Königs von Navarra zwei und
zwanzig Cagots beiderlei Geschlechts, lauter jungen und gesunden Leuten, zur
Ader, um durch Untersuchung des Blutes derselben die Hitze zu erklären,
welche deren Körper besitzen sollte. Allein ihr Blut unterschied sich in nichts
von dem anderer Menschen. Nach den Berichten jener Aerzte waren die Ca¬
gots schöne Leute von mächtigem Körperbau, mit frischer Gesichtsfarbe, grau¬
blauen Augen von etwas schwermüthigen Ausdruck, und ein wenig dicken,
doch wohlgeformten Lippen. Auch jetzt noch zeigen ihre Nachkommen in
Frankreich dieselbe Eigenthümlichkett. Von der Rüstigkeit, die sie noch in
dem hohen Alter, das sie erreichen, bewahren, erzählt Dr. Guyon, der am
unparteiischsten und gründlichsten in seinen Untersuchungen war und sich viel
mit ihnen beschäftigte, mancherlei Beispiele. So traf er z. B. in einer Fa¬
milie einen Mann und Frau, beide von einundsiebzig Jahren, Kirschen pM
elend an. während eine andere Frau von dreiundachtzig Jahren, mit ihren
Enkeln spielend, im Grase lag.

Derselbe Dr. Guyon, und mit ihm auch noch andere Aerzte, machten
den Übeln Geruch, mit welchem die Cagots behaftet sein sollten, zum Gegen¬
stande ihrer Untersuchungen, konnten aber auch hier nichts Ungewöhnliches
entdecken. Nur die Ohren waren" von denen der übrigen Menschen etwas
verschieden. Dieselben waren nämlich nach den Berichten jenes Arztes rund
und knorpelig; das Ohrläppchen fehlte; die Ohren der meisten Cagots wenig¬
stens hatten diese Gestalt. Die Aerzte fügten ihrem Berichte bei, daß sie
nicht einsehen könnten, wie dieser Unterschied der Ohren einen Grund zur Aer>
solgung und Verabscheuung der Cagots abgeben könne. In geistiger Bezie¬
hung seien sie so gut wie andere Menschen befähigt, sei es ein kirchliches,
sei es ein Staatsamt zu bekleiden. Diese Berichte erwähnen noch einige auf
die Gestalt der Ohren der Cagots sich beziehende Thatsachen. So liefen den
Cagots, die in die Städte kamen, die Kinder blökend nach, als Anspielung
auf die Aehnlichkeit, welche deren Ohren mit denen der Schafe hatten,
welchen sie die Schäfer in einigen Gegenden abzuschneiden pflegten. Aehnlich
ist ein anderer Vorfall: Ein hübsches Cagotmüdchen, dem die Natur eine
schöne Stimme verliehen, hatte um die Erlaubniß gebeten in der Kirche to
Chor mitsingen zu dürfen. Der Orgelspieler, mehr Musiker als bigotter
tholik, hatte ihr diese ertheilt. Kaum entdeckte jedoch die Gemeinde, daß die
schöne Stimme von einer Cagotin ausgehe, als sie das arme Mädchen a"


Rechtfertigten aber, so ist man zu fragen genöthigt, die Cagots diesen
Abscheu, diese Furcht? waren sie wirklich Aussätzige? Keineswegs; nicht die
geringste Spur des Aussatzes oder einer ähnlichen Krankheit zeigie sich an
ihnen. Gelehrte Aerzte stellten zu verschiedenen Zeiten Untersuchungen mit
ihnen an, um den Ungrund des Volksabcrglciubens zu beweisen. So ließe»
z. B. im Jahre 1600 die Wundärzte des Königs von Navarra zwei und
zwanzig Cagots beiderlei Geschlechts, lauter jungen und gesunden Leuten, zur
Ader, um durch Untersuchung des Blutes derselben die Hitze zu erklären,
welche deren Körper besitzen sollte. Allein ihr Blut unterschied sich in nichts
von dem anderer Menschen. Nach den Berichten jener Aerzte waren die Ca¬
gots schöne Leute von mächtigem Körperbau, mit frischer Gesichtsfarbe, grau¬
blauen Augen von etwas schwermüthigen Ausdruck, und ein wenig dicken,
doch wohlgeformten Lippen. Auch jetzt noch zeigen ihre Nachkommen in
Frankreich dieselbe Eigenthümlichkett. Von der Rüstigkeit, die sie noch in
dem hohen Alter, das sie erreichen, bewahren, erzählt Dr. Guyon, der am
unparteiischsten und gründlichsten in seinen Untersuchungen war und sich viel
mit ihnen beschäftigte, mancherlei Beispiele. So traf er z. B. in einer Fa¬
milie einen Mann und Frau, beide von einundsiebzig Jahren, Kirschen pM
elend an. während eine andere Frau von dreiundachtzig Jahren, mit ihren
Enkeln spielend, im Grase lag.

Derselbe Dr. Guyon, und mit ihm auch noch andere Aerzte, machten
den Übeln Geruch, mit welchem die Cagots behaftet sein sollten, zum Gegen¬
stande ihrer Untersuchungen, konnten aber auch hier nichts Ungewöhnliches
entdecken. Nur die Ohren waren" von denen der übrigen Menschen etwas
verschieden. Dieselben waren nämlich nach den Berichten jenes Arztes rund
und knorpelig; das Ohrläppchen fehlte; die Ohren der meisten Cagots wenig¬
stens hatten diese Gestalt. Die Aerzte fügten ihrem Berichte bei, daß sie
nicht einsehen könnten, wie dieser Unterschied der Ohren einen Grund zur Aer>
solgung und Verabscheuung der Cagots abgeben könne. In geistiger Bezie¬
hung seien sie so gut wie andere Menschen befähigt, sei es ein kirchliches,
sei es ein Staatsamt zu bekleiden. Diese Berichte erwähnen noch einige auf
die Gestalt der Ohren der Cagots sich beziehende Thatsachen. So liefen den
Cagots, die in die Städte kamen, die Kinder blökend nach, als Anspielung
auf die Aehnlichkeit, welche deren Ohren mit denen der Schafe hatten,
welchen sie die Schäfer in einigen Gegenden abzuschneiden pflegten. Aehnlich
ist ein anderer Vorfall: Ein hübsches Cagotmüdchen, dem die Natur eine
schöne Stimme verliehen, hatte um die Erlaubniß gebeten in der Kirche to
Chor mitsingen zu dürfen. Der Orgelspieler, mehr Musiker als bigotter
tholik, hatte ihr diese ertheilt. Kaum entdeckte jedoch die Gemeinde, daß die
schöne Stimme von einer Cagotin ausgehe, als sie das arme Mädchen a»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/434>, abgerufen am 23.12.2024.