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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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über die Gebühr belästigende Zögerung bei der Einführung bestündiger und noth¬
wendiger Verbesserungen leicht in die Gefahr einer maaßlosen Ueberforderung
und Uebertreibung stürzt. Der Unverstand von 1848 und der Aufstand
von' 1849 haben voraussichtlich auf lange eine harmonische Ausbildung
der Gesetze und Einrichtungen gestört." Ja die bis vor wenig Tagen
versammelt gewesenen Kammern, das Verhalten des Landes zu diesen Kam¬
mern haben es zu einer erschreckenden Klarheit gebracht, wie sehr Sachsen
politisch verkommen ist; es wäre ein falscher Patriotismus, hier schön färben
zu wollen, hier gilt es, die ungeschminkte volle Wahrheit zu sagen und die
ist: unter allen Ländern Deutschlands, selbst Mecklenburg kaum ausgenommen,
gewährt Sachsen zur Zeit wol das unerquicklichste Bild, die Dinge und Ver¬
hältnisse sind, vornehmlich durch den jetzigen Landtag, zu einer Schroffheit ent¬
wickelt, welche jede Anbahnung gesunden politischen Lebens auszuschließen scheint
und für jeden etwas weiter Sehenden die Befürchtung nahe legt, daß
Sachsen auch fernerhin zwischen Extremen bedauerlich hin und her geworfen
werden wird. Die Frage, bei der es sich entscheiden mußte, ob Sachsen in
die Bahnen ruhigen Fortschrittes einlenken sollte, oder nicht, war die Wahl¬
reformsrage, und ihre bedauerliche Lösung hat den Kammern den unvergäng¬
lichsten Stempel aufgeprägt, läßt den diesmaligen Landtag als würdiges
Seitenstück des bekannten Landtags von 1848 erscheinen.

Die Wahlreformfrage wurde, wie erwartet, in der zweiten Kammer bald
angeregt, und die dritte Deputation, welche über sehr unzureichende Reform¬
vorschläge des Abg. Oehmigen und einen Antrag des Abg. Jungnickel zu re-
feriren hatte, stellte sehr beherzt den Antrag, dem Abg. Jungnickel die Ein¬
bringung des 1849 den Stünden bereits vorgelegten Wahlgesetzes zu gestatten
und somit von dem ihr nach §. 85 der Verfassung zustehenden Rechte der
Initiative Gebrauch zu machen. Allein dieser muthige Antrag fiel in der
Kammer klüglich zu Boden: nach einer äußerst unerquicklichen Debatte, in
welcher Herr v. Beust in seinem Humor sogar so weit gehen konnte, der Re¬
gierung dafür einiges Verdienst zu vindiciren, wenn in Sachsen, wo man "1849
sich wol am weitesten von bundesgemüßen Zustünden entfernt habe, trotzdem jedes
Eingreifen des Bundes fern gehalten worden sei. wurde der Antrag der De¬
putation mit 57 gegen 12 Stimmen abgelehnt. Gleichwol war der Ruf nach
Wahlreform von den meisten Rednern (nur einige Rittergutsbesitzer spräche"
gegen jede Reform) erhoben worden, indem dabei der eine Redner, Reiche-
Eisenstuck, sich namentlich für die auf einen Census begründete active und
passive Wählbarkeit der Unansüssigkeit (in Städten ohne Bürgerrechtsbedingung)
erhob, andere und darunter sehr gewichtige Stimmen überhaupt nur die
Mahnung an die Regierung richteten, eine Revision des Wahlgesetzes von i83l
vorzunehmen.


über die Gebühr belästigende Zögerung bei der Einführung bestündiger und noth¬
wendiger Verbesserungen leicht in die Gefahr einer maaßlosen Ueberforderung
und Uebertreibung stürzt. Der Unverstand von 1848 und der Aufstand
von' 1849 haben voraussichtlich auf lange eine harmonische Ausbildung
der Gesetze und Einrichtungen gestört." Ja die bis vor wenig Tagen
versammelt gewesenen Kammern, das Verhalten des Landes zu diesen Kam¬
mern haben es zu einer erschreckenden Klarheit gebracht, wie sehr Sachsen
politisch verkommen ist; es wäre ein falscher Patriotismus, hier schön färben
zu wollen, hier gilt es, die ungeschminkte volle Wahrheit zu sagen und die
ist: unter allen Ländern Deutschlands, selbst Mecklenburg kaum ausgenommen,
gewährt Sachsen zur Zeit wol das unerquicklichste Bild, die Dinge und Ver¬
hältnisse sind, vornehmlich durch den jetzigen Landtag, zu einer Schroffheit ent¬
wickelt, welche jede Anbahnung gesunden politischen Lebens auszuschließen scheint
und für jeden etwas weiter Sehenden die Befürchtung nahe legt, daß
Sachsen auch fernerhin zwischen Extremen bedauerlich hin und her geworfen
werden wird. Die Frage, bei der es sich entscheiden mußte, ob Sachsen in
die Bahnen ruhigen Fortschrittes einlenken sollte, oder nicht, war die Wahl¬
reformsrage, und ihre bedauerliche Lösung hat den Kammern den unvergäng¬
lichsten Stempel aufgeprägt, läßt den diesmaligen Landtag als würdiges
Seitenstück des bekannten Landtags von 1848 erscheinen.

Die Wahlreformfrage wurde, wie erwartet, in der zweiten Kammer bald
angeregt, und die dritte Deputation, welche über sehr unzureichende Reform¬
vorschläge des Abg. Oehmigen und einen Antrag des Abg. Jungnickel zu re-
feriren hatte, stellte sehr beherzt den Antrag, dem Abg. Jungnickel die Ein¬
bringung des 1849 den Stünden bereits vorgelegten Wahlgesetzes zu gestatten
und somit von dem ihr nach §. 85 der Verfassung zustehenden Rechte der
Initiative Gebrauch zu machen. Allein dieser muthige Antrag fiel in der
Kammer klüglich zu Boden: nach einer äußerst unerquicklichen Debatte, in
welcher Herr v. Beust in seinem Humor sogar so weit gehen konnte, der Re¬
gierung dafür einiges Verdienst zu vindiciren, wenn in Sachsen, wo man »1849
sich wol am weitesten von bundesgemüßen Zustünden entfernt habe, trotzdem jedes
Eingreifen des Bundes fern gehalten worden sei. wurde der Antrag der De¬
putation mit 57 gegen 12 Stimmen abgelehnt. Gleichwol war der Ruf nach
Wahlreform von den meisten Rednern (nur einige Rittergutsbesitzer spräche»
gegen jede Reform) erhoben worden, indem dabei der eine Redner, Reiche-
Eisenstuck, sich namentlich für die auf einen Census begründete active und
passive Wählbarkeit der Unansüssigkeit (in Städten ohne Bürgerrechtsbedingung)
erhob, andere und darunter sehr gewichtige Stimmen überhaupt nur die
Mahnung an die Regierung richteten, eine Revision des Wahlgesetzes von i83l
vorzunehmen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/332>, abgerufen am 23.12.2024.