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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Das sächsische Wahlgesetz und die sächsischen Kammern.

Als vor nunmehr fast Jahresfrist das Hagelwetter über Leipzig's Fluren
daherbrauste. da fühlte in der allgemeinen Zerstörung wol Mancher, daß der
eigentliche Umfang des Schadens sich erst später, bei dem Wiedererwachen der
Natur zeigen würde. Und diese Ahnung war richtig; als das Frühjahr kam,
da gewahrte man mit Schrecken, wie viele Bäume todt blieben; fast- und
blattlos streckten sie ihre dürren Aeste hinaus in das allgemeine Blühen und
Treiben; was der Hagelschlag begonnen, hatte der rauhe Winter vollendet,
und in aller Stille räumten Axt und Säge die Todten hinweg. Und genau
so, nur mit Ausnahme des Letzteren, hat sich's in Sachsens politischer Ent¬
wickelung erfüllt. Als der Hagelschlag der 1850er Juniverordnungen fiel, da
war es wol Manchem klar, daß hiermit das ruhige liberale Wachsthum der
sächsischen Verfassung für Jahre lang zerstört sei. und in dem langen rauhen
Winter der Reaction mochte ihm wol seine Sorge zur bangen Gewißheit wer¬
den, aber was todt und abgestorben sei, das konnte sich erst zeigen, als in¬
mitten des allgemeinen Frühlings auch unsere Bäume grünen sollten, und daß
so viel todt sei. als es sich nun gezeigt hat, daß ein solcher politischer Maras-
Mus in den zehn Jahren sich entwickelt habe, das hat wol auch der größte
Pessimist nicht zu ahnen gewagt. Mit Schrecken gewahrt man nun die Wahr¬
heit des Urtheils, des Prognostikons, was v. Mohl in seiner Geschichte und
Literatur der Staatswissenschaften (II. S. 363) über Sachsen ausspricht:
"Sachsen ist durch seine Verfassung von 1831 in eine neue Bahn gekommen,
und es sind wichtige Veränderungen in dem hergebrachten Staatswesen ein-
getreten. Freilich bis jetzt nicht in stätigen. gemessenem Fortschritte; vielmehr
bald schwerfällig bald in sinnloser Ueberstürzung, damit denn auch weder zu
allgemeiner Befriedigung, noch als schließliche Feststellung. Vielmehr haben
Zweierlei Wahrheiten durch den Verlauf der Dinge in Sachsen eine merk¬
würdige Bestätigung gesunden. Einmal der Satz, daß es weit schwieriger
'se. eine Verwaltung umzugestalten, als dem Staate eine neue Verfassung zu
geben, nur daß zwischen beiden vielmehr der Unterschied von Gedanken und
Ausführung ist. Zweitens aber die Lehre, daß eine die menschliche Geduld


Grenzboten III, 1861.
Das sächsische Wahlgesetz und die sächsischen Kammern.

Als vor nunmehr fast Jahresfrist das Hagelwetter über Leipzig's Fluren
daherbrauste. da fühlte in der allgemeinen Zerstörung wol Mancher, daß der
eigentliche Umfang des Schadens sich erst später, bei dem Wiedererwachen der
Natur zeigen würde. Und diese Ahnung war richtig; als das Frühjahr kam,
da gewahrte man mit Schrecken, wie viele Bäume todt blieben; fast- und
blattlos streckten sie ihre dürren Aeste hinaus in das allgemeine Blühen und
Treiben; was der Hagelschlag begonnen, hatte der rauhe Winter vollendet,
und in aller Stille räumten Axt und Säge die Todten hinweg. Und genau
so, nur mit Ausnahme des Letzteren, hat sich's in Sachsens politischer Ent¬
wickelung erfüllt. Als der Hagelschlag der 1850er Juniverordnungen fiel, da
war es wol Manchem klar, daß hiermit das ruhige liberale Wachsthum der
sächsischen Verfassung für Jahre lang zerstört sei. und in dem langen rauhen
Winter der Reaction mochte ihm wol seine Sorge zur bangen Gewißheit wer¬
den, aber was todt und abgestorben sei, das konnte sich erst zeigen, als in¬
mitten des allgemeinen Frühlings auch unsere Bäume grünen sollten, und daß
so viel todt sei. als es sich nun gezeigt hat, daß ein solcher politischer Maras-
Mus in den zehn Jahren sich entwickelt habe, das hat wol auch der größte
Pessimist nicht zu ahnen gewagt. Mit Schrecken gewahrt man nun die Wahr¬
heit des Urtheils, des Prognostikons, was v. Mohl in seiner Geschichte und
Literatur der Staatswissenschaften (II. S. 363) über Sachsen ausspricht:
„Sachsen ist durch seine Verfassung von 1831 in eine neue Bahn gekommen,
und es sind wichtige Veränderungen in dem hergebrachten Staatswesen ein-
getreten. Freilich bis jetzt nicht in stätigen. gemessenem Fortschritte; vielmehr
bald schwerfällig bald in sinnloser Ueberstürzung, damit denn auch weder zu
allgemeiner Befriedigung, noch als schließliche Feststellung. Vielmehr haben
Zweierlei Wahrheiten durch den Verlauf der Dinge in Sachsen eine merk¬
würdige Bestätigung gesunden. Einmal der Satz, daß es weit schwieriger
'se. eine Verwaltung umzugestalten, als dem Staate eine neue Verfassung zu
geben, nur daß zwischen beiden vielmehr der Unterschied von Gedanken und
Ausführung ist. Zweitens aber die Lehre, daß eine die menschliche Geduld


Grenzboten III, 1861.
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[0331] Das sächsische Wahlgesetz und die sächsischen Kammern. Als vor nunmehr fast Jahresfrist das Hagelwetter über Leipzig's Fluren daherbrauste. da fühlte in der allgemeinen Zerstörung wol Mancher, daß der eigentliche Umfang des Schadens sich erst später, bei dem Wiedererwachen der Natur zeigen würde. Und diese Ahnung war richtig; als das Frühjahr kam, da gewahrte man mit Schrecken, wie viele Bäume todt blieben; fast- und blattlos streckten sie ihre dürren Aeste hinaus in das allgemeine Blühen und Treiben; was der Hagelschlag begonnen, hatte der rauhe Winter vollendet, und in aller Stille räumten Axt und Säge die Todten hinweg. Und genau so, nur mit Ausnahme des Letzteren, hat sich's in Sachsens politischer Ent¬ wickelung erfüllt. Als der Hagelschlag der 1850er Juniverordnungen fiel, da war es wol Manchem klar, daß hiermit das ruhige liberale Wachsthum der sächsischen Verfassung für Jahre lang zerstört sei. und in dem langen rauhen Winter der Reaction mochte ihm wol seine Sorge zur bangen Gewißheit wer¬ den, aber was todt und abgestorben sei, das konnte sich erst zeigen, als in¬ mitten des allgemeinen Frühlings auch unsere Bäume grünen sollten, und daß so viel todt sei. als es sich nun gezeigt hat, daß ein solcher politischer Maras- Mus in den zehn Jahren sich entwickelt habe, das hat wol auch der größte Pessimist nicht zu ahnen gewagt. Mit Schrecken gewahrt man nun die Wahr¬ heit des Urtheils, des Prognostikons, was v. Mohl in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (II. S. 363) über Sachsen ausspricht: „Sachsen ist durch seine Verfassung von 1831 in eine neue Bahn gekommen, und es sind wichtige Veränderungen in dem hergebrachten Staatswesen ein- getreten. Freilich bis jetzt nicht in stätigen. gemessenem Fortschritte; vielmehr bald schwerfällig bald in sinnloser Ueberstürzung, damit denn auch weder zu allgemeiner Befriedigung, noch als schließliche Feststellung. Vielmehr haben Zweierlei Wahrheiten durch den Verlauf der Dinge in Sachsen eine merk¬ würdige Bestätigung gesunden. Einmal der Satz, daß es weit schwieriger 'se. eine Verwaltung umzugestalten, als dem Staate eine neue Verfassung zu geben, nur daß zwischen beiden vielmehr der Unterschied von Gedanken und Ausführung ist. Zweitens aber die Lehre, daß eine die menschliche Geduld Grenzboten III, 1861.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/331>, abgerufen am 03.07.2024.