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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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der meisten Felder der Wissenschaften trieb überdies alle diejenigen, deren geistige
Organisation sie heutzutage der Geschichte der Philosophie, der Sprachwissen¬
schaft, den Naturwissenschaften u. s. f. zuführt, in die gelehrte Theologie hinein,
in welcher Ehre und Auszeichnung zu verdienen war, und doch auch wirklich
die ganze Breite eines gegliederten, wissenschaftlichen Organismus dargeboten
wurde. Und welche Wissenschaft hing denn damals nicht mit der Theologie
zusammen? War sie doch diejenige, von der aus alle andern in einzig wahrer
Weise zu betreiben waren.

Diese und noch manche andere Entschuldigungsgründe können für die
betrübende Erscheinung aufgeführt werden, daß gegen Ende des sechszehnten
Jahrhunderts unter dem Einflüsse bornirter Dogmatiker das sittlich-religiöse
Leben der Nation erstarrt, und der hoffnungsvolle Schwung, durch den unser
Volk in den ersten dreißig Jahren dieses Jahrhunderts in höhere, reinere
Lebenssphüren getragen war, gar bald nachgelassen hatte. Schon lange be¬
fehdeten sich die beiden neuen Glaubensgenossenschaften auf Tod und Leben
und hatten im wüsten Parteigefechtc Kampfrufe angenommen, die nicht gerade
geeignet waren ihnen neue Genossen aus der alten Kirche zuzuführen, Schien
es doch fast, als ob das Lutherthum sich allmälig der alten Glaubens¬
form bis auf eine schwer zu bestimmende Grenze wider nähern werde, nur
um die Schwestcrkirche desto sicherer zu verderben/) Je hofmäßiger aber die
Vertreter der neuen Kirchengemeinschaften, namentlich die Lutheraner, geworden
waren, um so hierarchischer traten sie gegen das Volk auf. um so mehr er¬
kannten sie ihre Ausgabe darin, die religiöse Entwickelung auf dieselbe polizeilich¬
mechanische Weise zu beschränken, mit welcher von den verschiedenen Negierungs-
gewalten damals die übrigen Strömungen des Volkslebens eingedämmt wurden.
Und so stand in der That zu befürchten, daß in den neuen Kirchengemeinschaften
ein äußerliches Kirchenthum im Bunde mit der fürstlichen Gewalt die Herr'
schast erlangen werde, welches die großen welthistorischen Gedanken der Refor¬
mation in noch härtere Fesseln schlagen würde, als der Katholicismus. Denn
gerade diejenigen Männer, welche die Kerngedanken der neuen Bewegung f"rt-
zuentwickeln strebten, welche in der That der Meinung waren, daß der Haupt¬
gewinn derselben die freie innere Vermittelung des Gläubigen mit Gott auf
Grund der Bibel sei, waren an Anzahl gering und ohne weitreichenden
durchgreifenden Einfluß. Männer wie Gerhard in Jena, Meisner in Witten-
berg, vor Allen Amt, Valentin Andreä, saubere, klagen alle nur zu bitter
über die Erfolglosigkeit ihres eifrigen Strebens, diese innere Quelle der Reli¬
gion auf's Neue flüssig zu machen.



") Vgl. die Dedication des kursächsischen Hofpredigers Polyccirp Lcyser an Christian den
Zweiten, welche er seiner "dreifachen Erklärung des Katechismus Luthers" vorsetzte, -- Tholu".
Glaubenszeugen S. 258.

der meisten Felder der Wissenschaften trieb überdies alle diejenigen, deren geistige
Organisation sie heutzutage der Geschichte der Philosophie, der Sprachwissen¬
schaft, den Naturwissenschaften u. s. f. zuführt, in die gelehrte Theologie hinein,
in welcher Ehre und Auszeichnung zu verdienen war, und doch auch wirklich
die ganze Breite eines gegliederten, wissenschaftlichen Organismus dargeboten
wurde. Und welche Wissenschaft hing denn damals nicht mit der Theologie
zusammen? War sie doch diejenige, von der aus alle andern in einzig wahrer
Weise zu betreiben waren.

Diese und noch manche andere Entschuldigungsgründe können für die
betrübende Erscheinung aufgeführt werden, daß gegen Ende des sechszehnten
Jahrhunderts unter dem Einflüsse bornirter Dogmatiker das sittlich-religiöse
Leben der Nation erstarrt, und der hoffnungsvolle Schwung, durch den unser
Volk in den ersten dreißig Jahren dieses Jahrhunderts in höhere, reinere
Lebenssphüren getragen war, gar bald nachgelassen hatte. Schon lange be¬
fehdeten sich die beiden neuen Glaubensgenossenschaften auf Tod und Leben
und hatten im wüsten Parteigefechtc Kampfrufe angenommen, die nicht gerade
geeignet waren ihnen neue Genossen aus der alten Kirche zuzuführen, Schien
es doch fast, als ob das Lutherthum sich allmälig der alten Glaubens¬
form bis auf eine schwer zu bestimmende Grenze wider nähern werde, nur
um die Schwestcrkirche desto sicherer zu verderben/) Je hofmäßiger aber die
Vertreter der neuen Kirchengemeinschaften, namentlich die Lutheraner, geworden
waren, um so hierarchischer traten sie gegen das Volk auf. um so mehr er¬
kannten sie ihre Ausgabe darin, die religiöse Entwickelung auf dieselbe polizeilich¬
mechanische Weise zu beschränken, mit welcher von den verschiedenen Negierungs-
gewalten damals die übrigen Strömungen des Volkslebens eingedämmt wurden.
Und so stand in der That zu befürchten, daß in den neuen Kirchengemeinschaften
ein äußerliches Kirchenthum im Bunde mit der fürstlichen Gewalt die Herr'
schast erlangen werde, welches die großen welthistorischen Gedanken der Refor¬
mation in noch härtere Fesseln schlagen würde, als der Katholicismus. Denn
gerade diejenigen Männer, welche die Kerngedanken der neuen Bewegung f»rt-
zuentwickeln strebten, welche in der That der Meinung waren, daß der Haupt¬
gewinn derselben die freie innere Vermittelung des Gläubigen mit Gott auf
Grund der Bibel sei, waren an Anzahl gering und ohne weitreichenden
durchgreifenden Einfluß. Männer wie Gerhard in Jena, Meisner in Witten-
berg, vor Allen Amt, Valentin Andreä, saubere, klagen alle nur zu bitter
über die Erfolglosigkeit ihres eifrigen Strebens, diese innere Quelle der Reli¬
gion auf's Neue flüssig zu machen.



") Vgl. die Dedication des kursächsischen Hofpredigers Polyccirp Lcyser an Christian den
Zweiten, welche er seiner „dreifachen Erklärung des Katechismus Luthers" vorsetzte, — Tholu».
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/292>, abgerufen am 23.12.2024.