Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in Folge lange, vorbereiteter Maßregeln in einem so organisirten revolutio¬
nären Zustande gewesen, daß die Stimme des Monarchen nicht mehr unbe¬
dingt Gesetz sei. Man würde ihn entthront haben, wenn er sich nicht gegen
Frankreich erklärt hätte, und wenn er den Krieg nicht mit sehr großen Vor¬
theilen beendige, sei es mehr als wahrscheinlich, daß er unbotmäßige Unter¬
thanen finden werde.

Der Engländer beurtheilt überhaupt die Sachlage von seinem rein insularen
Standpunkte aus. Wenn das politische Gleichgewicht auf dem Festlande und
der englische Einfluß daselbst nur nothdürftig wiederhergestellt ist, was küm¬
mert es ihn da, was aus Deutschland wird? Genügt nicht ein Zusammen¬
halten Englands mit Rußland und Oestreich, wenn diese in ihrem ursprüng¬
lichen Machtumfange wiederhergestellt sind, Frankreich die Waage zu halten?
Man hatte die Existenz gerettet, was brauchte man mehr? So dachten freilich
nickt die deutschen Patrioten, die Stein, Blücher. Gneisenau, die freilich bei
Wilson in keinem guten Gerüche stehen, vorzüglich seitdem er in's östreichische
Hauptquartier versetzt war, wie wir später sehen werden. Er findet sie leicht¬
fertig und unbesonnen, nennt sie die Kriegspartei und ist ganz unglücklich da¬
rüber, daß sich Lord Cathcart ihnen angeschlossen hat, und ihre Wünsche bei
dem englischen Cavinet vertritt. Seiner Ansicht nach kann Nichts als Unglück
daraus kommen. Dagegen ist Radetzky ganz ein Mann nach seinem Sinn,
der den nach dem Beitritt Oestreichs in Reichenbach verabredeten, auf einen
concentrischen Angriff gegen die Stellung der Franzosen an der Elbe berech¬
neten Angriffsplan tadelte und lieber mit dem gesammten verbündeten Heere
den Angriff Napoleons in Böhmen abwarten wollte, um ihn dann womöglich
in die Defileen des Erzgebirges zu werfen. Es muß uns wundern, daß dem
sonst so scharfblickender Manne die Selbstsucht dieses Planes, der nur darauf
berechnet war das Gebiet und das Heer Oestreichs intact zu erhalten, während
Norddeutschland, der Hauptheerd der Bewegung gegen Napoleon, dringendste
Gefahr lief von den feindlichen Heerschaaren überschwemmt und entwaffnet zu
werden, verborgen blieb. Es ist dies nur ein neuer Beweis, wie sehr der
menschliche Geist selbst bei begabteren Naturen geneigt ist, seine Schlußfolge¬
rungen seinen Vorurtheilen und vorgefaßten Meinungen anzupassen.




in Folge lange, vorbereiteter Maßregeln in einem so organisirten revolutio¬
nären Zustande gewesen, daß die Stimme des Monarchen nicht mehr unbe¬
dingt Gesetz sei. Man würde ihn entthront haben, wenn er sich nicht gegen
Frankreich erklärt hätte, und wenn er den Krieg nicht mit sehr großen Vor¬
theilen beendige, sei es mehr als wahrscheinlich, daß er unbotmäßige Unter¬
thanen finden werde.

Der Engländer beurtheilt überhaupt die Sachlage von seinem rein insularen
Standpunkte aus. Wenn das politische Gleichgewicht auf dem Festlande und
der englische Einfluß daselbst nur nothdürftig wiederhergestellt ist, was küm¬
mert es ihn da, was aus Deutschland wird? Genügt nicht ein Zusammen¬
halten Englands mit Rußland und Oestreich, wenn diese in ihrem ursprüng¬
lichen Machtumfange wiederhergestellt sind, Frankreich die Waage zu halten?
Man hatte die Existenz gerettet, was brauchte man mehr? So dachten freilich
nickt die deutschen Patrioten, die Stein, Blücher. Gneisenau, die freilich bei
Wilson in keinem guten Gerüche stehen, vorzüglich seitdem er in's östreichische
Hauptquartier versetzt war, wie wir später sehen werden. Er findet sie leicht¬
fertig und unbesonnen, nennt sie die Kriegspartei und ist ganz unglücklich da¬
rüber, daß sich Lord Cathcart ihnen angeschlossen hat, und ihre Wünsche bei
dem englischen Cavinet vertritt. Seiner Ansicht nach kann Nichts als Unglück
daraus kommen. Dagegen ist Radetzky ganz ein Mann nach seinem Sinn,
der den nach dem Beitritt Oestreichs in Reichenbach verabredeten, auf einen
concentrischen Angriff gegen die Stellung der Franzosen an der Elbe berech¬
neten Angriffsplan tadelte und lieber mit dem gesammten verbündeten Heere
den Angriff Napoleons in Böhmen abwarten wollte, um ihn dann womöglich
in die Defileen des Erzgebirges zu werfen. Es muß uns wundern, daß dem
sonst so scharfblickender Manne die Selbstsucht dieses Planes, der nur darauf
berechnet war das Gebiet und das Heer Oestreichs intact zu erhalten, während
Norddeutschland, der Hauptheerd der Bewegung gegen Napoleon, dringendste
Gefahr lief von den feindlichen Heerschaaren überschwemmt und entwaffnet zu
werden, verborgen blieb. Es ist dies nur ein neuer Beweis, wie sehr der
menschliche Geist selbst bei begabteren Naturen geneigt ist, seine Schlußfolge¬
rungen seinen Vorurtheilen und vorgefaßten Meinungen anzupassen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112230"/>
            <p xml:id="ID_851" prev="#ID_850"> in Folge lange, vorbereiteter Maßregeln in einem so organisirten revolutio¬<lb/>
nären Zustande gewesen, daß die Stimme des Monarchen nicht mehr unbe¬<lb/>
dingt Gesetz sei. Man würde ihn entthront haben, wenn er sich nicht gegen<lb/>
Frankreich erklärt hätte, und wenn er den Krieg nicht mit sehr großen Vor¬<lb/>
theilen beendige, sei es mehr als wahrscheinlich, daß er unbotmäßige Unter¬<lb/>
thanen finden werde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_852"> Der Engländer beurtheilt überhaupt die Sachlage von seinem rein insularen<lb/>
Standpunkte aus. Wenn das politische Gleichgewicht auf dem Festlande und<lb/>
der englische Einfluß daselbst nur nothdürftig wiederhergestellt ist, was küm¬<lb/>
mert es ihn da, was aus Deutschland wird? Genügt nicht ein Zusammen¬<lb/>
halten Englands mit Rußland und Oestreich, wenn diese in ihrem ursprüng¬<lb/>
lichen Machtumfange wiederhergestellt sind, Frankreich die Waage zu halten?<lb/>
Man hatte die Existenz gerettet, was brauchte man mehr? So dachten freilich<lb/>
nickt die deutschen Patrioten, die Stein, Blücher. Gneisenau, die freilich bei<lb/>
Wilson in keinem guten Gerüche stehen, vorzüglich seitdem er in's östreichische<lb/>
Hauptquartier versetzt war, wie wir später sehen werden. Er findet sie leicht¬<lb/>
fertig und unbesonnen, nennt sie die Kriegspartei und ist ganz unglücklich da¬<lb/>
rüber, daß sich Lord Cathcart ihnen angeschlossen hat, und ihre Wünsche bei<lb/>
dem englischen Cavinet vertritt. Seiner Ansicht nach kann Nichts als Unglück<lb/>
daraus kommen. Dagegen ist Radetzky ganz ein Mann nach seinem Sinn,<lb/>
der den nach dem Beitritt Oestreichs in Reichenbach verabredeten, auf einen<lb/>
concentrischen Angriff gegen die Stellung der Franzosen an der Elbe berech¬<lb/>
neten Angriffsplan tadelte und lieber mit dem gesammten verbündeten Heere<lb/>
den Angriff Napoleons in Böhmen abwarten wollte, um ihn dann womöglich<lb/>
in die Defileen des Erzgebirges zu werfen. Es muß uns wundern, daß dem<lb/>
sonst so scharfblickender Manne die Selbstsucht dieses Planes, der nur darauf<lb/>
berechnet war das Gebiet und das Heer Oestreichs intact zu erhalten, während<lb/>
Norddeutschland, der Hauptheerd der Bewegung gegen Napoleon, dringendste<lb/>
Gefahr lief von den feindlichen Heerschaaren überschwemmt und entwaffnet zu<lb/>
werden, verborgen blieb. Es ist dies nur ein neuer Beweis, wie sehr der<lb/>
menschliche Geist selbst bei begabteren Naturen geneigt ist, seine Schlußfolge¬<lb/>
rungen seinen Vorurtheilen und vorgefaßten Meinungen anzupassen.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] in Folge lange, vorbereiteter Maßregeln in einem so organisirten revolutio¬ nären Zustande gewesen, daß die Stimme des Monarchen nicht mehr unbe¬ dingt Gesetz sei. Man würde ihn entthront haben, wenn er sich nicht gegen Frankreich erklärt hätte, und wenn er den Krieg nicht mit sehr großen Vor¬ theilen beendige, sei es mehr als wahrscheinlich, daß er unbotmäßige Unter¬ thanen finden werde. Der Engländer beurtheilt überhaupt die Sachlage von seinem rein insularen Standpunkte aus. Wenn das politische Gleichgewicht auf dem Festlande und der englische Einfluß daselbst nur nothdürftig wiederhergestellt ist, was küm¬ mert es ihn da, was aus Deutschland wird? Genügt nicht ein Zusammen¬ halten Englands mit Rußland und Oestreich, wenn diese in ihrem ursprüng¬ lichen Machtumfange wiederhergestellt sind, Frankreich die Waage zu halten? Man hatte die Existenz gerettet, was brauchte man mehr? So dachten freilich nickt die deutschen Patrioten, die Stein, Blücher. Gneisenau, die freilich bei Wilson in keinem guten Gerüche stehen, vorzüglich seitdem er in's östreichische Hauptquartier versetzt war, wie wir später sehen werden. Er findet sie leicht¬ fertig und unbesonnen, nennt sie die Kriegspartei und ist ganz unglücklich da¬ rüber, daß sich Lord Cathcart ihnen angeschlossen hat, und ihre Wünsche bei dem englischen Cavinet vertritt. Seiner Ansicht nach kann Nichts als Unglück daraus kommen. Dagegen ist Radetzky ganz ein Mann nach seinem Sinn, der den nach dem Beitritt Oestreichs in Reichenbach verabredeten, auf einen concentrischen Angriff gegen die Stellung der Franzosen an der Elbe berech¬ neten Angriffsplan tadelte und lieber mit dem gesammten verbündeten Heere den Angriff Napoleons in Böhmen abwarten wollte, um ihn dann womöglich in die Defileen des Erzgebirges zu werfen. Es muß uns wundern, daß dem sonst so scharfblickender Manne die Selbstsucht dieses Planes, der nur darauf berechnet war das Gebiet und das Heer Oestreichs intact zu erhalten, während Norddeutschland, der Hauptheerd der Bewegung gegen Napoleon, dringendste Gefahr lief von den feindlichen Heerschaaren überschwemmt und entwaffnet zu werden, verborgen blieb. Es ist dies nur ein neuer Beweis, wie sehr der menschliche Geist selbst bei begabteren Naturen geneigt ist, seine Schlußfolge¬ rungen seinen Vorurtheilen und vorgefaßten Meinungen anzupassen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/260>, abgerufen am 23.12.2024.