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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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und der Nordarmee viel zu gering anschlägt; endlich, daß Preußens Bethei¬
ligung an dem Kampfe sehr in den Schatten zurücktritt und die gewaltige
Volksbewegung, mit welcher Norddeutschland in den Krieg eintrat, kaum Be¬
achtung findet. In den politischen Urtheilen herrscht der rein englische Stand¬
punkt natürlich vor. Wenn es nur gelingt Frankreichs erdrückende Uebermacht
auf dem Kontinent zu brechen und Englands Einfluß dort wieder herzustellen
und die Gefahr vermieden wird, dafür Nußland vielleicht eine gleich über¬
mächtige Stellung zu geben, ist es gleichgültig, ob eine oder zwei schöne
deutsche Provinzen mehr unter Napoleons Joch bleiben, oder ob das tief verletzte
Nationalgefühl Preußens und Deutschlandseine Genugthuung erhält, oder nicht.

Bei all diesen Mängeln bleibt das Werk aber doch von Bedeutung.
Der Verfasser war so gestellt, daß er innerhalb des Kreises, in dem er sich
bewegte, stets aus erster und bester Quelle schöpfen konnte, und seine Auf¬
zeichnungen geben uns stets einen authentischen Bericht über die Ereignisse,
die vor seinen Augen sich zutrugen und über die Strömungen, die in seiner
Umgebung herrschend waren.

Da alles Wesentliche aus dem Tagebuche von 1812 Aufnahme in die
Geschichte dieses Feldzugs gefunden hat, so berücksichtigen wir diesen Theil
von General Wilson's Aufzeichnungen weiter nicht und knüpfen erst da wieder
an. wo die "Geheime Geschichte" aufhört.

Mit großer und berechtigter Siegeszuversicht hatte Wilson die russische
Armee von Moskau aus vorwärts begleitet. Er sah, daß es nur des Zu-
greifens bedürfte, um die französische Armee vollständig zu vernichten und nicht
nur Rußland, sondern ganz Europa von dem drückenden Joch des Eroberers
zu befreien. Als aber jeder Entscheidungstyg klarer machte, daß Kutusow ganz
unfähig war, einen kräftigen Entschluß zu fassen, stimmten sich die Hoffnungen
des englischen Generals bedeutend herab. In Wilna, wo eine Pause in der Ver¬
folgung eintrat, fand er Muße, Umschau über die politischen und militärischen Ver¬
hältnisse zu halten und er fand die Aussichten nicht tröstlich. "Wir sollen
jetzt zweifelhafte Unternehmungen beginnen," schreibt er. "Wir haben ge¬
waltige Hindernisse zu überwinden; und wenn Oestreich sich uns nicht anschließt,
so sind, meiner Meinung nach, für die Nüssen allein, selbst unter geschickter
Führung, diese Hindernisse unüberwindlich. Bereits ist uns der Feind an Zahl
überlegen; bereits können wir strategische Pläne und die ganze Energie unserer
Mittel nicht entbehren. Der Feldherrnstab bleibt jedoch in der Hand eines
wesenlosen Phantoms, das weder Princip, militärisches Talent noch persönliche
Entschlossenheit besitzt. Der Genius Rußlands ist mächtig und verschwende¬
risch mit seinem Schutze. Aber der Genius Rußlands muß fügsame und brauch'
bare Werkzeuge haben, um gegen Geschicklichkeit und Macht mit Erfolg einen
Feldzug durchzuführen." Nicht bloß die Unfähigkeit Kutusow's preßte Wilson


und der Nordarmee viel zu gering anschlägt; endlich, daß Preußens Bethei¬
ligung an dem Kampfe sehr in den Schatten zurücktritt und die gewaltige
Volksbewegung, mit welcher Norddeutschland in den Krieg eintrat, kaum Be¬
achtung findet. In den politischen Urtheilen herrscht der rein englische Stand¬
punkt natürlich vor. Wenn es nur gelingt Frankreichs erdrückende Uebermacht
auf dem Kontinent zu brechen und Englands Einfluß dort wieder herzustellen
und die Gefahr vermieden wird, dafür Nußland vielleicht eine gleich über¬
mächtige Stellung zu geben, ist es gleichgültig, ob eine oder zwei schöne
deutsche Provinzen mehr unter Napoleons Joch bleiben, oder ob das tief verletzte
Nationalgefühl Preußens und Deutschlandseine Genugthuung erhält, oder nicht.

Bei all diesen Mängeln bleibt das Werk aber doch von Bedeutung.
Der Verfasser war so gestellt, daß er innerhalb des Kreises, in dem er sich
bewegte, stets aus erster und bester Quelle schöpfen konnte, und seine Auf¬
zeichnungen geben uns stets einen authentischen Bericht über die Ereignisse,
die vor seinen Augen sich zutrugen und über die Strömungen, die in seiner
Umgebung herrschend waren.

Da alles Wesentliche aus dem Tagebuche von 1812 Aufnahme in die
Geschichte dieses Feldzugs gefunden hat, so berücksichtigen wir diesen Theil
von General Wilson's Aufzeichnungen weiter nicht und knüpfen erst da wieder
an. wo die „Geheime Geschichte" aufhört.

Mit großer und berechtigter Siegeszuversicht hatte Wilson die russische
Armee von Moskau aus vorwärts begleitet. Er sah, daß es nur des Zu-
greifens bedürfte, um die französische Armee vollständig zu vernichten und nicht
nur Rußland, sondern ganz Europa von dem drückenden Joch des Eroberers
zu befreien. Als aber jeder Entscheidungstyg klarer machte, daß Kutusow ganz
unfähig war, einen kräftigen Entschluß zu fassen, stimmten sich die Hoffnungen
des englischen Generals bedeutend herab. In Wilna, wo eine Pause in der Ver¬
folgung eintrat, fand er Muße, Umschau über die politischen und militärischen Ver¬
hältnisse zu halten und er fand die Aussichten nicht tröstlich. „Wir sollen
jetzt zweifelhafte Unternehmungen beginnen," schreibt er. „Wir haben ge¬
waltige Hindernisse zu überwinden; und wenn Oestreich sich uns nicht anschließt,
so sind, meiner Meinung nach, für die Nüssen allein, selbst unter geschickter
Führung, diese Hindernisse unüberwindlich. Bereits ist uns der Feind an Zahl
überlegen; bereits können wir strategische Pläne und die ganze Energie unserer
Mittel nicht entbehren. Der Feldherrnstab bleibt jedoch in der Hand eines
wesenlosen Phantoms, das weder Princip, militärisches Talent noch persönliche
Entschlossenheit besitzt. Der Genius Rußlands ist mächtig und verschwende¬
risch mit seinem Schutze. Aber der Genius Rußlands muß fügsame und brauch'
bare Werkzeuge haben, um gegen Geschicklichkeit und Macht mit Erfolg einen
Feldzug durchzuführen." Nicht bloß die Unfähigkeit Kutusow's preßte Wilson


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/252>, abgerufen am 23.12.2024.