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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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und des geschichtlichen Details dem Zuschauer lebendig werden soll. Diesem
Bedürfniß abzuhelfen, ist die eigene, geistige Productionskraft des phantasie¬
loser Zeitalters zu schwach; es ist die Zeit der "Reprisen". Die Oper
1a Statue von Reyer -- einem Nachfolger Webers. -- hat wol den betäubenden
Duft und die zauberische Pracht des Orients in Musik und Scenerie zum
Ausdruck zu bringen gesucht, und das Spektakelstück, 1'eteMrit an roi ne Siam
meint den Reiz eines solchen Schauspiels durch die Verwerthung einer bis¬
her ungekannten mimischen Kraft -- eines Elephanten zu erhöhen. Aber man
merkt die künstliche Anstrengung und der Erfolg ist ein mäßiger. Dagegen
hat sich die Wirkung einiger aus dem Reiche der Todten wieder auferweckten
Stücke der romantischen Schule um so mächtiger erwiesen. Insbesondere
macht die tour ac Nesle von Alex. Dumas (aus dem Jahre 1833) volles Haus.
Die wüste, raffinirte. teuflische Leidenschaft der Königin Margaretha -- Ge¬
mahlin Ludwigs des Zehnten -- im Kampfe mit der Schlauheit des unver¬
wüstlichen Abenteurers Buridan, der das Schicksal spielt, in dem schließlich Alle
zu Grunde gehen, die Spannung der dramatisch zugespitzten Verwicklungen,
der ganze buntscheckige Apparat der Romantik, der den geschichtlichen Zusam¬
menhang in eine Reihe natürlicher Wunder auflöst, das historische Gewand
dagegen bis zum Bettvorhang gewissenhaft wiedergibt: das Alles übt wieder
den alten Reiz aus. Auch für die ernstlichen Conflicte der Liebe, die in der
anständigen Welt spielen und an der Grenze einer groben Unsittlichkeit und
des Lasters auf haarscharfer Linie schwanken, ist das Interesse wieder wach
geworden. Man hat ^uZele -- ebenfalls von A. Dumas aus dem Jahre 1834
wieder hervorgeholt, ein Rührdrama, in welchem der Liebhaber, lediglich
UM Carriere zu machen, sich in drei Liebschaften zugleich verstrickt: von alten
banden noch festgehalten ein Mädchen aus guter Familie -- so ziemlich auf
der Bühne -- verführt hat und die Mutter heirathen will. Hier nehmen die
düstern Collisionen, in welche die blasirte herzlose Berechnung mit dem wil¬
den Naturtrieb unheimlicher Leidenschaften geräth, die Seele des Zuschauers
Kefangen; es ist für die neueste Zeit eine Befriedigung, sich von furchtbaren,
wenn auch krankhaften Aufregungen ebensowol sinnlich als gemüthlich durch¬
schütteln zu lassen.

Treten die Schattenseiten aller dieser Gattungen des Dramas scharf ge¬
nug hervor und ist bei keiner an eine wirklich dramatische Handlung, die aus
der Tiefe des Charakters sich entwickelt, noch an einen Zusammenstoß zu
b°nten, der, sei er tragisch oder komisch, den verborgenen Grund des L"dens
aufdeckt: so verfehlt doch keines dieser Stücke sein" Wirkung. Sie spannen,
Asseln, treiben vorwärts, reißen Geist und Sinne mit sich fort. Wir kommen
auf einen Punkt, in welchem die Bühne mit dem Leben in Einklang
^de: hejde haben eine in ihrer Art vollendete Form der Erscheinung. Nicht


Grenzboten III. 1S61. 29

und des geschichtlichen Details dem Zuschauer lebendig werden soll. Diesem
Bedürfniß abzuhelfen, ist die eigene, geistige Productionskraft des phantasie¬
loser Zeitalters zu schwach; es ist die Zeit der „Reprisen". Die Oper
1a Statue von Reyer — einem Nachfolger Webers. — hat wol den betäubenden
Duft und die zauberische Pracht des Orients in Musik und Scenerie zum
Ausdruck zu bringen gesucht, und das Spektakelstück, 1'eteMrit an roi ne Siam
meint den Reiz eines solchen Schauspiels durch die Verwerthung einer bis¬
her ungekannten mimischen Kraft — eines Elephanten zu erhöhen. Aber man
merkt die künstliche Anstrengung und der Erfolg ist ein mäßiger. Dagegen
hat sich die Wirkung einiger aus dem Reiche der Todten wieder auferweckten
Stücke der romantischen Schule um so mächtiger erwiesen. Insbesondere
macht die tour ac Nesle von Alex. Dumas (aus dem Jahre 1833) volles Haus.
Die wüste, raffinirte. teuflische Leidenschaft der Königin Margaretha — Ge¬
mahlin Ludwigs des Zehnten — im Kampfe mit der Schlauheit des unver¬
wüstlichen Abenteurers Buridan, der das Schicksal spielt, in dem schließlich Alle
zu Grunde gehen, die Spannung der dramatisch zugespitzten Verwicklungen,
der ganze buntscheckige Apparat der Romantik, der den geschichtlichen Zusam¬
menhang in eine Reihe natürlicher Wunder auflöst, das historische Gewand
dagegen bis zum Bettvorhang gewissenhaft wiedergibt: das Alles übt wieder
den alten Reiz aus. Auch für die ernstlichen Conflicte der Liebe, die in der
anständigen Welt spielen und an der Grenze einer groben Unsittlichkeit und
des Lasters auf haarscharfer Linie schwanken, ist das Interesse wieder wach
geworden. Man hat ^uZele — ebenfalls von A. Dumas aus dem Jahre 1834
wieder hervorgeholt, ein Rührdrama, in welchem der Liebhaber, lediglich
UM Carriere zu machen, sich in drei Liebschaften zugleich verstrickt: von alten
banden noch festgehalten ein Mädchen aus guter Familie — so ziemlich auf
der Bühne — verführt hat und die Mutter heirathen will. Hier nehmen die
düstern Collisionen, in welche die blasirte herzlose Berechnung mit dem wil¬
den Naturtrieb unheimlicher Leidenschaften geräth, die Seele des Zuschauers
Kefangen; es ist für die neueste Zeit eine Befriedigung, sich von furchtbaren,
wenn auch krankhaften Aufregungen ebensowol sinnlich als gemüthlich durch¬
schütteln zu lassen.

Treten die Schattenseiten aller dieser Gattungen des Dramas scharf ge¬
nug hervor und ist bei keiner an eine wirklich dramatische Handlung, die aus
der Tiefe des Charakters sich entwickelt, noch an einen Zusammenstoß zu
b°nten, der, sei er tragisch oder komisch, den verborgenen Grund des L«dens
aufdeckt: so verfehlt doch keines dieser Stücke sein« Wirkung. Sie spannen,
Asseln, treiben vorwärts, reißen Geist und Sinne mit sich fort. Wir kommen
auf einen Punkt, in welchem die Bühne mit dem Leben in Einklang
^de: hejde haben eine in ihrer Art vollendete Form der Erscheinung. Nicht


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[0235] und des geschichtlichen Details dem Zuschauer lebendig werden soll. Diesem Bedürfniß abzuhelfen, ist die eigene, geistige Productionskraft des phantasie¬ loser Zeitalters zu schwach; es ist die Zeit der „Reprisen". Die Oper 1a Statue von Reyer — einem Nachfolger Webers. — hat wol den betäubenden Duft und die zauberische Pracht des Orients in Musik und Scenerie zum Ausdruck zu bringen gesucht, und das Spektakelstück, 1'eteMrit an roi ne Siam meint den Reiz eines solchen Schauspiels durch die Verwerthung einer bis¬ her ungekannten mimischen Kraft — eines Elephanten zu erhöhen. Aber man merkt die künstliche Anstrengung und der Erfolg ist ein mäßiger. Dagegen hat sich die Wirkung einiger aus dem Reiche der Todten wieder auferweckten Stücke der romantischen Schule um so mächtiger erwiesen. Insbesondere macht die tour ac Nesle von Alex. Dumas (aus dem Jahre 1833) volles Haus. Die wüste, raffinirte. teuflische Leidenschaft der Königin Margaretha — Ge¬ mahlin Ludwigs des Zehnten — im Kampfe mit der Schlauheit des unver¬ wüstlichen Abenteurers Buridan, der das Schicksal spielt, in dem schließlich Alle zu Grunde gehen, die Spannung der dramatisch zugespitzten Verwicklungen, der ganze buntscheckige Apparat der Romantik, der den geschichtlichen Zusam¬ menhang in eine Reihe natürlicher Wunder auflöst, das historische Gewand dagegen bis zum Bettvorhang gewissenhaft wiedergibt: das Alles übt wieder den alten Reiz aus. Auch für die ernstlichen Conflicte der Liebe, die in der anständigen Welt spielen und an der Grenze einer groben Unsittlichkeit und des Lasters auf haarscharfer Linie schwanken, ist das Interesse wieder wach geworden. Man hat ^uZele — ebenfalls von A. Dumas aus dem Jahre 1834 wieder hervorgeholt, ein Rührdrama, in welchem der Liebhaber, lediglich UM Carriere zu machen, sich in drei Liebschaften zugleich verstrickt: von alten banden noch festgehalten ein Mädchen aus guter Familie — so ziemlich auf der Bühne — verführt hat und die Mutter heirathen will. Hier nehmen die düstern Collisionen, in welche die blasirte herzlose Berechnung mit dem wil¬ den Naturtrieb unheimlicher Leidenschaften geräth, die Seele des Zuschauers Kefangen; es ist für die neueste Zeit eine Befriedigung, sich von furchtbaren, wenn auch krankhaften Aufregungen ebensowol sinnlich als gemüthlich durch¬ schütteln zu lassen. Treten die Schattenseiten aller dieser Gattungen des Dramas scharf ge¬ nug hervor und ist bei keiner an eine wirklich dramatische Handlung, die aus der Tiefe des Charakters sich entwickelt, noch an einen Zusammenstoß zu b°nten, der, sei er tragisch oder komisch, den verborgenen Grund des L«dens aufdeckt: so verfehlt doch keines dieser Stücke sein« Wirkung. Sie spannen, Asseln, treiben vorwärts, reißen Geist und Sinne mit sich fort. Wir kommen auf einen Punkt, in welchem die Bühne mit dem Leben in Einklang ^de: hejde haben eine in ihrer Art vollendete Form der Erscheinung. Nicht Grenzboten III. 1S61. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/235>, abgerufen am 27.08.2024.