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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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der Unsicherheit aller Verhältnisse und der dunkeln, geheimnißvollen Leitung
der Geschicke des Landes bisweilen angst und bang werden; er, der für die
kommende Zeit lebt, kann nichts unternehmen, die Hände sind ihm gebunden,
da er den unberechenbaren Fügungen einer unbestimmbaren Macht anheim¬
gegeben ist. Indessen ist ein durchgreifender Wechsel der Dinge vorerst nicht
abzusehen, und so muß auch er sich helfen, so gut es geht. Ganz wohl ist
der Nation bei ihrer glänzenden Stellung ebenfalls nicht: sie fühlt sich in der
Situation eines Mannes, der mit verbundenen Augen auf unbekannten
Wegen von der festen Hand des Führers geleitet wird. Fast ganz kann sich
jener auf diesen verlassen; aber wenn er selber den Weg suchen dürfte, seinen
eignen Augen würde er doch mehr trauen.

Indessen paßt das Bild nicht ganz. Nicht bloß, daß sich das Volk wider¬
standslos der Leitung seines Führers überläßt: es gibt zugleich den ruhigen
Zuschauer seines eigenen Schicksals ab, es ist zugleich auf der Bühne und im
Parterre, es sieht zu, wie es mehr gespielt wird, als selber spielt, bald von
den eben vorübergegangenen Dingen lebhast bewegt, bald die kommenden
mit Spannung erwartend, fast wie wenn>s von jenen nicht berührt würde, von
diesen für sich nichts zu fürchten hätte. Es ist eine mißliche Sache um diese
objective Betrachtung des eigenen Schicksals; denn es ist so ziemlich der
gerade Gegensatz zu dem Bewußtsein, seines Glückes eigner Schmied zu sein,
und auf diesem Wege geht das Interesse an dem gemeinsamen öffentlichen
Leben dem Einzelnen ganz verloren. Das Nationalgefühl beschränkt sich dann
auf Aeußerlichkeiten, das Ganze fällt allmälig in spröde Atome auseinander,
und das Individuum, nicht mehr gehoben durch die Verflechtung in ein
mächtiges Gesammtleben, versinkt in ein zufälliges Treiben für sich, wie
wenn die Angelegenheit des Landes nicht seine eigene wäre. Es fehlt mit
einem Wort die innere Theilnahme an den öffentlichen Dingen und das Ver¬
trauen auf die eigene Kraft; man fürchtet den Uebergang zu einer neuen
Regierungsform, man hat zu dieser selber keinen rechten Trieb. Guizot be¬
merkt einmal, daß in Frankreich die Mittelklassen die Neigung haben, sich mit
einer augenblicklichen Leidenschaft in Umwälzungen einzulassen, daß sie aber
nach dem ersten Schreck der Krisis der Politik überdrüssig werden, sich dann
in das bürgerliche Leben zurückziehen und nichts weiter als Sicherheet ihrer
Privatinteressen verlangen. Julian Schmidt (französische Literaturgeschichte)
macht den richtigen Zusatz, daß dies nicht nur von den Mittelklassen, sondern
vom französischen Volk überhaupt gelte. Nach einem fieberhaften Aufschwung,
die Staatsgeschüfte selber in die Hand zu nehmen, wobei sie im Stande sind,
Haus und Hof, Weib und Kind zu verlassen, fallen die Franzosen ebenso
rasch in eine schlaffe Unselbständigkeit zurück, in der sie politisch der elastische
Spielball einer kühnen Einzelkraft werden und alle ihre Selbstthätigkeit aus


der Unsicherheit aller Verhältnisse und der dunkeln, geheimnißvollen Leitung
der Geschicke des Landes bisweilen angst und bang werden; er, der für die
kommende Zeit lebt, kann nichts unternehmen, die Hände sind ihm gebunden,
da er den unberechenbaren Fügungen einer unbestimmbaren Macht anheim¬
gegeben ist. Indessen ist ein durchgreifender Wechsel der Dinge vorerst nicht
abzusehen, und so muß auch er sich helfen, so gut es geht. Ganz wohl ist
der Nation bei ihrer glänzenden Stellung ebenfalls nicht: sie fühlt sich in der
Situation eines Mannes, der mit verbundenen Augen auf unbekannten
Wegen von der festen Hand des Führers geleitet wird. Fast ganz kann sich
jener auf diesen verlassen; aber wenn er selber den Weg suchen dürfte, seinen
eignen Augen würde er doch mehr trauen.

Indessen paßt das Bild nicht ganz. Nicht bloß, daß sich das Volk wider¬
standslos der Leitung seines Führers überläßt: es gibt zugleich den ruhigen
Zuschauer seines eigenen Schicksals ab, es ist zugleich auf der Bühne und im
Parterre, es sieht zu, wie es mehr gespielt wird, als selber spielt, bald von
den eben vorübergegangenen Dingen lebhast bewegt, bald die kommenden
mit Spannung erwartend, fast wie wenn>s von jenen nicht berührt würde, von
diesen für sich nichts zu fürchten hätte. Es ist eine mißliche Sache um diese
objective Betrachtung des eigenen Schicksals; denn es ist so ziemlich der
gerade Gegensatz zu dem Bewußtsein, seines Glückes eigner Schmied zu sein,
und auf diesem Wege geht das Interesse an dem gemeinsamen öffentlichen
Leben dem Einzelnen ganz verloren. Das Nationalgefühl beschränkt sich dann
auf Aeußerlichkeiten, das Ganze fällt allmälig in spröde Atome auseinander,
und das Individuum, nicht mehr gehoben durch die Verflechtung in ein
mächtiges Gesammtleben, versinkt in ein zufälliges Treiben für sich, wie
wenn die Angelegenheit des Landes nicht seine eigene wäre. Es fehlt mit
einem Wort die innere Theilnahme an den öffentlichen Dingen und das Ver¬
trauen auf die eigene Kraft; man fürchtet den Uebergang zu einer neuen
Regierungsform, man hat zu dieser selber keinen rechten Trieb. Guizot be¬
merkt einmal, daß in Frankreich die Mittelklassen die Neigung haben, sich mit
einer augenblicklichen Leidenschaft in Umwälzungen einzulassen, daß sie aber
nach dem ersten Schreck der Krisis der Politik überdrüssig werden, sich dann
in das bürgerliche Leben zurückziehen und nichts weiter als Sicherheet ihrer
Privatinteressen verlangen. Julian Schmidt (französische Literaturgeschichte)
macht den richtigen Zusatz, daß dies nicht nur von den Mittelklassen, sondern
vom französischen Volk überhaupt gelte. Nach einem fieberhaften Aufschwung,
die Staatsgeschüfte selber in die Hand zu nehmen, wobei sie im Stande sind,
Haus und Hof, Weib und Kind zu verlassen, fallen die Franzosen ebenso
rasch in eine schlaffe Unselbständigkeit zurück, in der sie politisch der elastische
Spielball einer kühnen Einzelkraft werden und alle ihre Selbstthätigkeit aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/220>, abgerufen am 23.12.2024.