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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Nachtrag zur "Charakteristik Japans."

Nagasaki 7. Mai. Als in den ersten Tagen des Februar nach einer an¬
strengenden und zum Theil gefahrvollen Fahrt durch die Van Diemcnstraße
mit der letzten Insel der letzte Streifen japanischen Landes langsam vor meinen
Augen verschwand, rief ich ihm. so schön ich es auch gefunden, und so Vieles
ich auch darin bewundert hatte, doch in Erinnerung der letzten Wochen ein
herzliches Lebewohl auf Nimmerwiedersehen zu. Gewisseres glaubte ich nie
gesagt zu haben als diesen Abschiedsgruß. Ein mir jetzt erwünschter Zufall
hat es anders gemacht, und mir gestattet, von China aus noch einmal hierher
zurückzukehren und das Land, das ich bisher nur in seinem nördlichen Theile,
und zwar im Herbst- und Winterkleide gesehen hatte, nun auch an seinem
südlichsten Punkte und im vollsten Frühlingsschmucke zu bewundern. ,

Um ein fremdes Land mit seinen charakteristischen Eigenthümlichkeiten
vollständig und richtig zu erfassen, ist nichts vortheilhafter, als es nach kurzem
Zwischenraume zum zweiten Male zu besuchen. So lange man mitten darin
steht, hat das aufmerksam forschende Auge fortwährend mit einem Nebel zu
kämpfen, der schwer zu beseitigen ist; erst wenn man draußen ist. zerrinnt dieser
Nebel ganz; es scheint, als ob man das oft gemißbrauchte Wort "objectiv"
Nicht materiell, nicht sinnlich genug nehmen könne. Man sieht deutlicher was
Man gesehen hat, aber man erkennt auch was fehlt.

Ich kam nun zurück in ein mir bekanntes Land, nach dem ich mitten in
China eine tiefe Sehnsucht empfunden hatte. Schmutz, Gestank, Betrug, un¬
würdiger und widerlicher Stlavensuin, gepaart mit unmotivirtem Hochmuth
sind die Grundelemente der chinesischen Welt. Ueber der japanischen ruht cha¬
rakteristisch: höchste Reinlichkeit. Zierlichkeit, Gefühl für Schicklichkeit und Maaß.
Unverkennbare Würde und Selbstachtung. ^ Und doch hat man beiden Völkern
denselben Ursprung zuschreiben und sie als Varietäten ein und derselben Race
betrachten wollen, eine Ansicht, die ich entschieden verwarf. Wäre irgend
eine Gemeinsamkeit des Ursprungs anzunehmen, so muß die Abzweigung
w den ersten Tagen der Weltgeschichte geschehen sein; denn es ist nichts,
was darauf hinweiset, als die Stellung der Augen, aber auch nur die
Stellung; denn schon der Ausdruck ist ein sehr verschiedener. Daß aber spä¬
ter Chinesenthum sich nach Japan hineingedrängt und bis heute unvertilgbare
Spuren zurückgelassen hat. ist geschichtlich constatirt und würde auch sonst
reinem Zweifel unterliegen, denn es hat dem Japaner seine Schriftzei¬
chen, seine Religion, den Baustyl seiner Tempel, seinen Thee und sei¬
nen Reis hinterlassen. Etwaige Aehnlichkeiten zwischen beiden Nationen
wotiviren sich aber auch durch das Medium einer dritten Welt, die im Sturm
gleichmäßig über beide dahingefahren ist. Das tartarische Geschlecht muß
einst von tiefgreifenden, gewaltigem und zeugungsfähigen Charakter gewesen
>e>n; die Welt erzitterte einst vor dem Schwerte eines Dschingis Chan, und
<artaren sitzen noch heute auf dem Throne des Reichs der Mitte. Und wie
"?>r geschichtlich nachweisen können, daß sie im Westen durch Polen gegangen
>u>d. so wissen wir. daß sie sich im Osten bis Japan erstreckt haben; überall
haben sie bald stärker bald schwächer ihren Stempel aufgeprägt und
wan liest noch heute von Polen bis Japan ihre Schriftzüge in der
Sprache, der Sitte, der ganzen Lebensanschauung. Gewiß finden sich


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Nachtrag zur „Charakteristik Japans."

Nagasaki 7. Mai. Als in den ersten Tagen des Februar nach einer an¬
strengenden und zum Theil gefahrvollen Fahrt durch die Van Diemcnstraße
mit der letzten Insel der letzte Streifen japanischen Landes langsam vor meinen
Augen verschwand, rief ich ihm. so schön ich es auch gefunden, und so Vieles
ich auch darin bewundert hatte, doch in Erinnerung der letzten Wochen ein
herzliches Lebewohl auf Nimmerwiedersehen zu. Gewisseres glaubte ich nie
gesagt zu haben als diesen Abschiedsgruß. Ein mir jetzt erwünschter Zufall
hat es anders gemacht, und mir gestattet, von China aus noch einmal hierher
zurückzukehren und das Land, das ich bisher nur in seinem nördlichen Theile,
und zwar im Herbst- und Winterkleide gesehen hatte, nun auch an seinem
südlichsten Punkte und im vollsten Frühlingsschmucke zu bewundern. ,

Um ein fremdes Land mit seinen charakteristischen Eigenthümlichkeiten
vollständig und richtig zu erfassen, ist nichts vortheilhafter, als es nach kurzem
Zwischenraume zum zweiten Male zu besuchen. So lange man mitten darin
steht, hat das aufmerksam forschende Auge fortwährend mit einem Nebel zu
kämpfen, der schwer zu beseitigen ist; erst wenn man draußen ist. zerrinnt dieser
Nebel ganz; es scheint, als ob man das oft gemißbrauchte Wort „objectiv"
Nicht materiell, nicht sinnlich genug nehmen könne. Man sieht deutlicher was
Man gesehen hat, aber man erkennt auch was fehlt.

Ich kam nun zurück in ein mir bekanntes Land, nach dem ich mitten in
China eine tiefe Sehnsucht empfunden hatte. Schmutz, Gestank, Betrug, un¬
würdiger und widerlicher Stlavensuin, gepaart mit unmotivirtem Hochmuth
sind die Grundelemente der chinesischen Welt. Ueber der japanischen ruht cha¬
rakteristisch: höchste Reinlichkeit. Zierlichkeit, Gefühl für Schicklichkeit und Maaß.
Unverkennbare Würde und Selbstachtung. ^ Und doch hat man beiden Völkern
denselben Ursprung zuschreiben und sie als Varietäten ein und derselben Race
betrachten wollen, eine Ansicht, die ich entschieden verwarf. Wäre irgend
eine Gemeinsamkeit des Ursprungs anzunehmen, so muß die Abzweigung
w den ersten Tagen der Weltgeschichte geschehen sein; denn es ist nichts,
was darauf hinweiset, als die Stellung der Augen, aber auch nur die
Stellung; denn schon der Ausdruck ist ein sehr verschiedener. Daß aber spä¬
ter Chinesenthum sich nach Japan hineingedrängt und bis heute unvertilgbare
Spuren zurückgelassen hat. ist geschichtlich constatirt und würde auch sonst
reinem Zweifel unterliegen, denn es hat dem Japaner seine Schriftzei¬
chen, seine Religion, den Baustyl seiner Tempel, seinen Thee und sei¬
nen Reis hinterlassen. Etwaige Aehnlichkeiten zwischen beiden Nationen
wotiviren sich aber auch durch das Medium einer dritten Welt, die im Sturm
gleichmäßig über beide dahingefahren ist. Das tartarische Geschlecht muß
einst von tiefgreifenden, gewaltigem und zeugungsfähigen Charakter gewesen
>e>n; die Welt erzitterte einst vor dem Schwerte eines Dschingis Chan, und
<artaren sitzen noch heute auf dem Throne des Reichs der Mitte. Und wie
"?>r geschichtlich nachweisen können, daß sie im Westen durch Polen gegangen
>u>d. so wissen wir. daß sie sich im Osten bis Japan erstreckt haben; überall
haben sie bald stärker bald schwächer ihren Stempel aufgeprägt und
wan liest noch heute von Polen bis Japan ihre Schriftzüge in der
Sprache, der Sitte, der ganzen Lebensanschauung. Gewiß finden sich


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[0205] Nachtrag zur „Charakteristik Japans." Nagasaki 7. Mai. Als in den ersten Tagen des Februar nach einer an¬ strengenden und zum Theil gefahrvollen Fahrt durch die Van Diemcnstraße mit der letzten Insel der letzte Streifen japanischen Landes langsam vor meinen Augen verschwand, rief ich ihm. so schön ich es auch gefunden, und so Vieles ich auch darin bewundert hatte, doch in Erinnerung der letzten Wochen ein herzliches Lebewohl auf Nimmerwiedersehen zu. Gewisseres glaubte ich nie gesagt zu haben als diesen Abschiedsgruß. Ein mir jetzt erwünschter Zufall hat es anders gemacht, und mir gestattet, von China aus noch einmal hierher zurückzukehren und das Land, das ich bisher nur in seinem nördlichen Theile, und zwar im Herbst- und Winterkleide gesehen hatte, nun auch an seinem südlichsten Punkte und im vollsten Frühlingsschmucke zu bewundern. , Um ein fremdes Land mit seinen charakteristischen Eigenthümlichkeiten vollständig und richtig zu erfassen, ist nichts vortheilhafter, als es nach kurzem Zwischenraume zum zweiten Male zu besuchen. So lange man mitten darin steht, hat das aufmerksam forschende Auge fortwährend mit einem Nebel zu kämpfen, der schwer zu beseitigen ist; erst wenn man draußen ist. zerrinnt dieser Nebel ganz; es scheint, als ob man das oft gemißbrauchte Wort „objectiv" Nicht materiell, nicht sinnlich genug nehmen könne. Man sieht deutlicher was Man gesehen hat, aber man erkennt auch was fehlt. Ich kam nun zurück in ein mir bekanntes Land, nach dem ich mitten in China eine tiefe Sehnsucht empfunden hatte. Schmutz, Gestank, Betrug, un¬ würdiger und widerlicher Stlavensuin, gepaart mit unmotivirtem Hochmuth sind die Grundelemente der chinesischen Welt. Ueber der japanischen ruht cha¬ rakteristisch: höchste Reinlichkeit. Zierlichkeit, Gefühl für Schicklichkeit und Maaß. Unverkennbare Würde und Selbstachtung. ^ Und doch hat man beiden Völkern denselben Ursprung zuschreiben und sie als Varietäten ein und derselben Race betrachten wollen, eine Ansicht, die ich entschieden verwarf. Wäre irgend eine Gemeinsamkeit des Ursprungs anzunehmen, so muß die Abzweigung w den ersten Tagen der Weltgeschichte geschehen sein; denn es ist nichts, was darauf hinweiset, als die Stellung der Augen, aber auch nur die Stellung; denn schon der Ausdruck ist ein sehr verschiedener. Daß aber spä¬ ter Chinesenthum sich nach Japan hineingedrängt und bis heute unvertilgbare Spuren zurückgelassen hat. ist geschichtlich constatirt und würde auch sonst reinem Zweifel unterliegen, denn es hat dem Japaner seine Schriftzei¬ chen, seine Religion, den Baustyl seiner Tempel, seinen Thee und sei¬ nen Reis hinterlassen. Etwaige Aehnlichkeiten zwischen beiden Nationen wotiviren sich aber auch durch das Medium einer dritten Welt, die im Sturm gleichmäßig über beide dahingefahren ist. Das tartarische Geschlecht muß einst von tiefgreifenden, gewaltigem und zeugungsfähigen Charakter gewesen >e>n; die Welt erzitterte einst vor dem Schwerte eines Dschingis Chan, und <artaren sitzen noch heute auf dem Throne des Reichs der Mitte. Und wie "?>r geschichtlich nachweisen können, daß sie im Westen durch Polen gegangen >u>d. so wissen wir. daß sie sich im Osten bis Japan erstreckt haben; überall haben sie bald stärker bald schwächer ihren Stempel aufgeprägt und wan liest noch heute von Polen bis Japan ihre Schriftzüge in der Sprache, der Sitte, der ganzen Lebensanschauung. Gewiß finden sich 25*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/205>, abgerufen am 22.12.2024.