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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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gereift ist, als die italienische zur Stunde war, da ihre Staatsmänner die Zeit
erfüllt glaubten, ob nicht die sittlichen Motive unsrer Vaterlandsliebe noch tiefer
wurzeln, ob nicht die extremen Parteien, welche noch heute das Werk Italiens
gefährden, bei uns mit größerem Rechte als innerlich überwunden gelten kön¬
nen. Was uns dagegen fehlt ist leider nur allzu offenbar. Uns fehlt der
Muth der Initiative, der Muth zu dem entscheidenden Schritte von der Pflege
der Idee zu ihrer Verwirklichung, uns fehlt vor Allem der kühne Staatsmann,
der im Vertrauen auf die Macht der Idee die Früchte der geistigen Vorar¬
beit zu pflücken versteht. Also doch ein Cavour? Bei den Urtheilen, welche
in der letzten Zeit über Cavour gefällt wurden, ist in der Regel auch von
seinen diplomatischen Künsten, von seinem Macchiavellismus die Rede gewesen.
Auch unser Verfasser nennt ihn eine Jncarnation von Macchiavelli's Kunst und
deutet damit an. daß er in der Wahl der Mittel eben nicht sehr gewissenhaft
gewesen sei, nicht die Gewissenhaftigkeit Balbo's. nicht die "deutsche Art" ge¬
habt habe. Uns scheint bei diesem Urtheil eine kleine Selbstgerechtigkett mit
unterzulausen, die um so weniger berechtigt ist, als sie nicht einmal selbst
an sich glaubt. Sieht sich doch auch Reuchlin zu dem Geständnis; genöthigt:
"In der Ausführung, als Mittel zur Erreichung der Unabhängigkeit konnte
Macchiavelli's Kunst wol nicht entbehrt werden." Wird uns mit dieser An¬
schauung nicht ein Dilemma gestellt, in welchem doch die Entscheidung nicht
zweifelhaft sein kann?

Allein in Wahrheit besteht dieses Dilemma gar nicht. In aller Welt
werden die Staatsmänner nicht mit dem Maßstab der bürgerlichen Moralität
gemessen, oder würde etwa ein Friedrich der Große vor diesem Tribunal be¬
stehen? Der höchste Maßstab zu ihrer Beurtheilung ist vielmehr unstreitig der,
inwiefern das Ziel, welches sie anstrebten, ein sittlich berechtigtes, die Idee,
für deren Verwirklichung sie kämpften, eine innerlich wahre, edle und große,
persönlicher Eitelkeit und Selbstsucht enthobne war, und wir denken, vor
diesem Tribunale dürfte Graf Cavour unbedenklich erscheinen. Selbst wenn
wir an die Mittel seiner Politik einen andern Maßstab legen wollen, so könnte
doch im Grunde nur der von ihm angerathene und durchgesetzte Ländertausch
einem Tadel unterliegen. Allein gerade in diesem Fall wird ein endgiltiges
Urtheil dadurch erschwert, wo nicht unmöglich gemacht, daß er mitten in sei¬
nen Entwürfen und Arbeiten, mitten in einer entscheidenden Krise seinem Va¬
terland entrissen wurde, so daß wir weder im Stande sind mit Sicherheit zu
sagen, welche Berechnung er mit jenem gewiß von ihm selbst in seiner ganzen
Schwere erwogenen Schritte verband, und noch weniger jetzt schon entscheiden
können, ob seine Berechnung richtig war oder nicht.

Daß nur ein Mann von Cavours Art im Stande war die nationale
Idee der Italiener zu verwirklichen, ist eine Lehre; die sich gerade aus der


gereift ist, als die italienische zur Stunde war, da ihre Staatsmänner die Zeit
erfüllt glaubten, ob nicht die sittlichen Motive unsrer Vaterlandsliebe noch tiefer
wurzeln, ob nicht die extremen Parteien, welche noch heute das Werk Italiens
gefährden, bei uns mit größerem Rechte als innerlich überwunden gelten kön¬
nen. Was uns dagegen fehlt ist leider nur allzu offenbar. Uns fehlt der
Muth der Initiative, der Muth zu dem entscheidenden Schritte von der Pflege
der Idee zu ihrer Verwirklichung, uns fehlt vor Allem der kühne Staatsmann,
der im Vertrauen auf die Macht der Idee die Früchte der geistigen Vorar¬
beit zu pflücken versteht. Also doch ein Cavour? Bei den Urtheilen, welche
in der letzten Zeit über Cavour gefällt wurden, ist in der Regel auch von
seinen diplomatischen Künsten, von seinem Macchiavellismus die Rede gewesen.
Auch unser Verfasser nennt ihn eine Jncarnation von Macchiavelli's Kunst und
deutet damit an. daß er in der Wahl der Mittel eben nicht sehr gewissenhaft
gewesen sei, nicht die Gewissenhaftigkeit Balbo's. nicht die „deutsche Art" ge¬
habt habe. Uns scheint bei diesem Urtheil eine kleine Selbstgerechtigkett mit
unterzulausen, die um so weniger berechtigt ist, als sie nicht einmal selbst
an sich glaubt. Sieht sich doch auch Reuchlin zu dem Geständnis; genöthigt:
„In der Ausführung, als Mittel zur Erreichung der Unabhängigkeit konnte
Macchiavelli's Kunst wol nicht entbehrt werden." Wird uns mit dieser An¬
schauung nicht ein Dilemma gestellt, in welchem doch die Entscheidung nicht
zweifelhaft sein kann?

Allein in Wahrheit besteht dieses Dilemma gar nicht. In aller Welt
werden die Staatsmänner nicht mit dem Maßstab der bürgerlichen Moralität
gemessen, oder würde etwa ein Friedrich der Große vor diesem Tribunal be¬
stehen? Der höchste Maßstab zu ihrer Beurtheilung ist vielmehr unstreitig der,
inwiefern das Ziel, welches sie anstrebten, ein sittlich berechtigtes, die Idee,
für deren Verwirklichung sie kämpften, eine innerlich wahre, edle und große,
persönlicher Eitelkeit und Selbstsucht enthobne war, und wir denken, vor
diesem Tribunale dürfte Graf Cavour unbedenklich erscheinen. Selbst wenn
wir an die Mittel seiner Politik einen andern Maßstab legen wollen, so könnte
doch im Grunde nur der von ihm angerathene und durchgesetzte Ländertausch
einem Tadel unterliegen. Allein gerade in diesem Fall wird ein endgiltiges
Urtheil dadurch erschwert, wo nicht unmöglich gemacht, daß er mitten in sei¬
nen Entwürfen und Arbeiten, mitten in einer entscheidenden Krise seinem Va¬
terland entrissen wurde, so daß wir weder im Stande sind mit Sicherheit zu
sagen, welche Berechnung er mit jenem gewiß von ihm selbst in seiner ganzen
Schwere erwogenen Schritte verband, und noch weniger jetzt schon entscheiden
können, ob seine Berechnung richtig war oder nicht.

Daß nur ein Mann von Cavours Art im Stande war die nationale
Idee der Italiener zu verwirklichen, ist eine Lehre; die sich gerade aus der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/158>, abgerufen am 23.12.2024.