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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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im buchstäblichen Sinne des Wortes schwer und schwül, denn es steht ihm
an der Stirne geschrieben, daß die freie, lebendige Regung der individuellen
Kräfte, das fruchtbare Keimen und Treiben von innen heraus überall fehlt.
Es schwindelt Einem zwischen dieser neuen Pracht, man erstickt, man schnappt
ängstlich nach Luft, die fieberhafte Eile, mit der die Thätigkeit von Jahrhunderte"
in ein Jahrzehnt zusammengezwängt wird, beklemmt. Diese neue, auf Ein
Wort hin wie mit einem Zauberschlag und doch durch Menschenkräfte aufge¬
führte Welt wird Einem unheimlich, der geschichtliche Boden wird unter den
Füßen wie weggerissen, man wandelt auf den Trümmern der Vergangenheit, und
der Fremde wenigstens hat ein Gefühl, wie wenn jeden Augenblick ein Ab¬
grund sich öffnen könnte, das Alles zu verschlingen; denn mit dem Anblick ei¬
nes blitzschnellen Lebens verbindet sich immer die Empfindung des Untergangs.

Und der Franzose? Empfindet er die Unbehaglichkeit dieser künstlichen
und fieberhaften Existenz weniger bestimmt und lebhaft als der Fremde? Doch
das gehört in das Capitel der allgemeinen Stimmung, der Sitten und der
Literatur. Denn in dieser sprechen sich jene um so deutlicher aus, als sie in
dem Zeitalter einer weit vorgeschrittenen Civilisation der Menge zum Bewußt¬
sein gekommen sind. Die Stimmung freilich entnimmt sich leichter aus der
unmittelbaren Beobachtung des Lebens; denn die Macht, welche das Land
unter ihrer unbedingten Leitung hat, legt dem literarischen Ausdruck desselben
mehr als einen Zaum an.




Cesare Balbo.*)

Es wäre eine zettgemäße Aufgabe, uns die Geschichte der Einheitsbestre¬
bungen Italiens im Reflex seiner schönen Literatur vorzuführen. Ein Gemälde
der italienischen Hoffnungen und Bestrebungen, wie sie sich vorzugsweise in den
Dichtern und Schriftstellern der Nation ausgesprochen haben, theils die Ereignisse
begleitend, theils aber ihnen voraneilend und vorarbeitend, müßte in mehr als
einem Sinn willkommen sein. Diese innere Geschichte wäre gleichsam ein un¬
erläßliches Correlat zur äußeren Geschichte, die uns doch wol im geistigen



') Lebensbilder zur Zeitgeschichte. I. Gras Cäsar Balbo. Den deutschen Patrioten gemut'
met von Hermann Reuchlin. Nördlingen 1361.

im buchstäblichen Sinne des Wortes schwer und schwül, denn es steht ihm
an der Stirne geschrieben, daß die freie, lebendige Regung der individuellen
Kräfte, das fruchtbare Keimen und Treiben von innen heraus überall fehlt.
Es schwindelt Einem zwischen dieser neuen Pracht, man erstickt, man schnappt
ängstlich nach Luft, die fieberhafte Eile, mit der die Thätigkeit von Jahrhunderte»
in ein Jahrzehnt zusammengezwängt wird, beklemmt. Diese neue, auf Ein
Wort hin wie mit einem Zauberschlag und doch durch Menschenkräfte aufge¬
führte Welt wird Einem unheimlich, der geschichtliche Boden wird unter den
Füßen wie weggerissen, man wandelt auf den Trümmern der Vergangenheit, und
der Fremde wenigstens hat ein Gefühl, wie wenn jeden Augenblick ein Ab¬
grund sich öffnen könnte, das Alles zu verschlingen; denn mit dem Anblick ei¬
nes blitzschnellen Lebens verbindet sich immer die Empfindung des Untergangs.

Und der Franzose? Empfindet er die Unbehaglichkeit dieser künstlichen
und fieberhaften Existenz weniger bestimmt und lebhaft als der Fremde? Doch
das gehört in das Capitel der allgemeinen Stimmung, der Sitten und der
Literatur. Denn in dieser sprechen sich jene um so deutlicher aus, als sie in
dem Zeitalter einer weit vorgeschrittenen Civilisation der Menge zum Bewußt¬
sein gekommen sind. Die Stimmung freilich entnimmt sich leichter aus der
unmittelbaren Beobachtung des Lebens; denn die Macht, welche das Land
unter ihrer unbedingten Leitung hat, legt dem literarischen Ausdruck desselben
mehr als einen Zaum an.




Cesare Balbo.*)

Es wäre eine zettgemäße Aufgabe, uns die Geschichte der Einheitsbestre¬
bungen Italiens im Reflex seiner schönen Literatur vorzuführen. Ein Gemälde
der italienischen Hoffnungen und Bestrebungen, wie sie sich vorzugsweise in den
Dichtern und Schriftstellern der Nation ausgesprochen haben, theils die Ereignisse
begleitend, theils aber ihnen voraneilend und vorarbeitend, müßte in mehr als
einem Sinn willkommen sein. Diese innere Geschichte wäre gleichsam ein un¬
erläßliches Correlat zur äußeren Geschichte, die uns doch wol im geistigen



') Lebensbilder zur Zeitgeschichte. I. Gras Cäsar Balbo. Den deutschen Patrioten gemut'
met von Hermann Reuchlin. Nördlingen 1361.
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[0154] im buchstäblichen Sinne des Wortes schwer und schwül, denn es steht ihm an der Stirne geschrieben, daß die freie, lebendige Regung der individuellen Kräfte, das fruchtbare Keimen und Treiben von innen heraus überall fehlt. Es schwindelt Einem zwischen dieser neuen Pracht, man erstickt, man schnappt ängstlich nach Luft, die fieberhafte Eile, mit der die Thätigkeit von Jahrhunderte» in ein Jahrzehnt zusammengezwängt wird, beklemmt. Diese neue, auf Ein Wort hin wie mit einem Zauberschlag und doch durch Menschenkräfte aufge¬ führte Welt wird Einem unheimlich, der geschichtliche Boden wird unter den Füßen wie weggerissen, man wandelt auf den Trümmern der Vergangenheit, und der Fremde wenigstens hat ein Gefühl, wie wenn jeden Augenblick ein Ab¬ grund sich öffnen könnte, das Alles zu verschlingen; denn mit dem Anblick ei¬ nes blitzschnellen Lebens verbindet sich immer die Empfindung des Untergangs. Und der Franzose? Empfindet er die Unbehaglichkeit dieser künstlichen und fieberhaften Existenz weniger bestimmt und lebhaft als der Fremde? Doch das gehört in das Capitel der allgemeinen Stimmung, der Sitten und der Literatur. Denn in dieser sprechen sich jene um so deutlicher aus, als sie in dem Zeitalter einer weit vorgeschrittenen Civilisation der Menge zum Bewußt¬ sein gekommen sind. Die Stimmung freilich entnimmt sich leichter aus der unmittelbaren Beobachtung des Lebens; denn die Macht, welche das Land unter ihrer unbedingten Leitung hat, legt dem literarischen Ausdruck desselben mehr als einen Zaum an. Cesare Balbo.*) Es wäre eine zettgemäße Aufgabe, uns die Geschichte der Einheitsbestre¬ bungen Italiens im Reflex seiner schönen Literatur vorzuführen. Ein Gemälde der italienischen Hoffnungen und Bestrebungen, wie sie sich vorzugsweise in den Dichtern und Schriftstellern der Nation ausgesprochen haben, theils die Ereignisse begleitend, theils aber ihnen voraneilend und vorarbeitend, müßte in mehr als einem Sinn willkommen sein. Diese innere Geschichte wäre gleichsam ein un¬ erläßliches Correlat zur äußeren Geschichte, die uns doch wol im geistigen ') Lebensbilder zur Zeitgeschichte. I. Gras Cäsar Balbo. Den deutschen Patrioten gemut' met von Hermann Reuchlin. Nördlingen 1361.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/154>, abgerufen am 22.12.2024.