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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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tröstliche Antwort bereit. Sie kennt wol die Ungunst des Jahrhunderts, sie
weiß, daß das Zeitalter seinen Mittelpunkt in ganz andern Gebieten des Le¬
bens als der Kunst findet, daß die wirkliche Welt ebensosehr der künstlerischen
Darstellung widerstrebt, als es an schöpferischen Talenten fehl^. sie ästhetisch
umzuformen; aber sie zeigt voll Hoffnung auf die Anfänge der wahren histo¬
rischen Kunst. Mit dieser soll eine neue Aera beginnen. Und gewiß, wenn
es diese Anfänge gibt, so muß die französische Kunst zurückstehen; denn auf
der ganzen Ausstellung ist kein einziges Bild, das auf die Bezeichnung histo¬
risch, wie die heutige Aesthetik sie nimmt. Anspruch machen könnte und zugleich
ein Kunstwerk wäre. Natürlich kann nur von einem solchen die Rede sein.
Zwar haben sich vor Jahrzehnten auch in Frankreich Anfänge einer historische"
Kunst gezeigt, die im Vergleich mit dem. was Derartiges sonstwo hervorgebracht
wurde, wahrlich nicht zu verachten waren; aber, wie es scheint, ist es bei den
Anfängen geblieben. Vielleicht sind wir productiver und glücklicher; vielleicht
sind wir bestimmt, eine neue Periode der Kunst, welche die Belgier und Frau-
Zofen nur wenige Schritte über die Schwelle hinaus betreten konnten, voll¬
ständig zu durchmessen. Es ist freilich in der Culturgeschichte nicht hergebracht,
daß sich die Kunst von der Kritik den Weg zeigen, daß sich die schöpferische
Kraft von der forschenden an die Hand nehmen läßt. Aber die weit vorge¬
schrittene Wissenschaft unserer Zeit, vor Allen fähig, in das innere Getriebe
der Dinge einzudringen und von da aus die nach allen Richtungen laufenden
Fäden zu verfolgen, ist vielleicht auch dem Entwickelungsgang, den die Kunst
nehmen wird, auf die Spur gekommen. So vermag sie es -- nicht die Kunst
zu leiten, denn das ist nicht ihres Amtes -- wol aber, die unsicher Suchende
Mit leisem Fingerzeig von allerlei Irrwegen zurückzuhalten und in die richtige
Bahn mehr zu begleiten, als zu lenken. Will sie diese Aufgabe übernehmen,
so hat sie freilich streng und bestimmt zu untersuchen, ob und wie eine histo¬
rische Kunst möglich ist: eine Kunst, die ebensowol wirkliche, ganze Kunst als
eine Darstellung ist, welche, wenn auch in noch so freier Auffassung, das Wesen
der Geschichte trifft. Eine Kunst, die sich, unbekümmert, um den Herzschlag der
Geschichte, eine beliebige historische Begebenheit zum Vorwurf nimmt oder
einen bedeutenden Moment wol herausgreift, aber ohne tieferes Verständniß
>n bloß malerischem Sinne behandelt, ist nichts Neues; und andererseits
'se ein Werk, welches wol ein Stück Geschichte in seinem Nerv zu packen
sucht, aber nicht vor Allem und in erster Reihe die Hand des wirklichen, gan¬
zen Künstlers in jedem Zug verräth, ein solches Werk ist keine Kunst.

Aber die nähere Erörterung dieser Frage muß der Betrachtung der deut¬
schen Kunst überlassen bleiben. Vielleicht bietet uns die Cölner Ausstellung
Gelegenheit, sie wieder aufzunehmen. Ja, vielleicht bringt diese von der Hand
eines der namhaftesten Künstler den ausgeführten Entwurf zu einem Bilde,


tröstliche Antwort bereit. Sie kennt wol die Ungunst des Jahrhunderts, sie
weiß, daß das Zeitalter seinen Mittelpunkt in ganz andern Gebieten des Le¬
bens als der Kunst findet, daß die wirkliche Welt ebensosehr der künstlerischen
Darstellung widerstrebt, als es an schöpferischen Talenten fehl^. sie ästhetisch
umzuformen; aber sie zeigt voll Hoffnung auf die Anfänge der wahren histo¬
rischen Kunst. Mit dieser soll eine neue Aera beginnen. Und gewiß, wenn
es diese Anfänge gibt, so muß die französische Kunst zurückstehen; denn auf
der ganzen Ausstellung ist kein einziges Bild, das auf die Bezeichnung histo¬
risch, wie die heutige Aesthetik sie nimmt. Anspruch machen könnte und zugleich
ein Kunstwerk wäre. Natürlich kann nur von einem solchen die Rede sein.
Zwar haben sich vor Jahrzehnten auch in Frankreich Anfänge einer historische»
Kunst gezeigt, die im Vergleich mit dem. was Derartiges sonstwo hervorgebracht
wurde, wahrlich nicht zu verachten waren; aber, wie es scheint, ist es bei den
Anfängen geblieben. Vielleicht sind wir productiver und glücklicher; vielleicht
sind wir bestimmt, eine neue Periode der Kunst, welche die Belgier und Frau-
Zofen nur wenige Schritte über die Schwelle hinaus betreten konnten, voll¬
ständig zu durchmessen. Es ist freilich in der Culturgeschichte nicht hergebracht,
daß sich die Kunst von der Kritik den Weg zeigen, daß sich die schöpferische
Kraft von der forschenden an die Hand nehmen läßt. Aber die weit vorge¬
schrittene Wissenschaft unserer Zeit, vor Allen fähig, in das innere Getriebe
der Dinge einzudringen und von da aus die nach allen Richtungen laufenden
Fäden zu verfolgen, ist vielleicht auch dem Entwickelungsgang, den die Kunst
nehmen wird, auf die Spur gekommen. So vermag sie es — nicht die Kunst
zu leiten, denn das ist nicht ihres Amtes — wol aber, die unsicher Suchende
Mit leisem Fingerzeig von allerlei Irrwegen zurückzuhalten und in die richtige
Bahn mehr zu begleiten, als zu lenken. Will sie diese Aufgabe übernehmen,
so hat sie freilich streng und bestimmt zu untersuchen, ob und wie eine histo¬
rische Kunst möglich ist: eine Kunst, die ebensowol wirkliche, ganze Kunst als
eine Darstellung ist, welche, wenn auch in noch so freier Auffassung, das Wesen
der Geschichte trifft. Eine Kunst, die sich, unbekümmert, um den Herzschlag der
Geschichte, eine beliebige historische Begebenheit zum Vorwurf nimmt oder
einen bedeutenden Moment wol herausgreift, aber ohne tieferes Verständniß
>n bloß malerischem Sinne behandelt, ist nichts Neues; und andererseits
'se ein Werk, welches wol ein Stück Geschichte in seinem Nerv zu packen
sucht, aber nicht vor Allem und in erster Reihe die Hand des wirklichen, gan¬
zen Künstlers in jedem Zug verräth, ein solches Werk ist keine Kunst.

Aber die nähere Erörterung dieser Frage muß der Betrachtung der deut¬
schen Kunst überlassen bleiben. Vielleicht bietet uns die Cölner Ausstellung
Gelegenheit, sie wieder aufzunehmen. Ja, vielleicht bringt diese von der Hand
eines der namhaftesten Künstler den ausgeführten Entwurf zu einem Bilde,


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[0121] tröstliche Antwort bereit. Sie kennt wol die Ungunst des Jahrhunderts, sie weiß, daß das Zeitalter seinen Mittelpunkt in ganz andern Gebieten des Le¬ bens als der Kunst findet, daß die wirkliche Welt ebensosehr der künstlerischen Darstellung widerstrebt, als es an schöpferischen Talenten fehl^. sie ästhetisch umzuformen; aber sie zeigt voll Hoffnung auf die Anfänge der wahren histo¬ rischen Kunst. Mit dieser soll eine neue Aera beginnen. Und gewiß, wenn es diese Anfänge gibt, so muß die französische Kunst zurückstehen; denn auf der ganzen Ausstellung ist kein einziges Bild, das auf die Bezeichnung histo¬ risch, wie die heutige Aesthetik sie nimmt. Anspruch machen könnte und zugleich ein Kunstwerk wäre. Natürlich kann nur von einem solchen die Rede sein. Zwar haben sich vor Jahrzehnten auch in Frankreich Anfänge einer historische» Kunst gezeigt, die im Vergleich mit dem. was Derartiges sonstwo hervorgebracht wurde, wahrlich nicht zu verachten waren; aber, wie es scheint, ist es bei den Anfängen geblieben. Vielleicht sind wir productiver und glücklicher; vielleicht sind wir bestimmt, eine neue Periode der Kunst, welche die Belgier und Frau- Zofen nur wenige Schritte über die Schwelle hinaus betreten konnten, voll¬ ständig zu durchmessen. Es ist freilich in der Culturgeschichte nicht hergebracht, daß sich die Kunst von der Kritik den Weg zeigen, daß sich die schöpferische Kraft von der forschenden an die Hand nehmen läßt. Aber die weit vorge¬ schrittene Wissenschaft unserer Zeit, vor Allen fähig, in das innere Getriebe der Dinge einzudringen und von da aus die nach allen Richtungen laufenden Fäden zu verfolgen, ist vielleicht auch dem Entwickelungsgang, den die Kunst nehmen wird, auf die Spur gekommen. So vermag sie es — nicht die Kunst zu leiten, denn das ist nicht ihres Amtes — wol aber, die unsicher Suchende Mit leisem Fingerzeig von allerlei Irrwegen zurückzuhalten und in die richtige Bahn mehr zu begleiten, als zu lenken. Will sie diese Aufgabe übernehmen, so hat sie freilich streng und bestimmt zu untersuchen, ob und wie eine histo¬ rische Kunst möglich ist: eine Kunst, die ebensowol wirkliche, ganze Kunst als eine Darstellung ist, welche, wenn auch in noch so freier Auffassung, das Wesen der Geschichte trifft. Eine Kunst, die sich, unbekümmert, um den Herzschlag der Geschichte, eine beliebige historische Begebenheit zum Vorwurf nimmt oder einen bedeutenden Moment wol herausgreift, aber ohne tieferes Verständniß >n bloß malerischem Sinne behandelt, ist nichts Neues; und andererseits 'se ein Werk, welches wol ein Stück Geschichte in seinem Nerv zu packen sucht, aber nicht vor Allem und in erster Reihe die Hand des wirklichen, gan¬ zen Künstlers in jedem Zug verräth, ein solches Werk ist keine Kunst. Aber die nähere Erörterung dieser Frage muß der Betrachtung der deut¬ schen Kunst überlassen bleiben. Vielleicht bietet uns die Cölner Ausstellung Gelegenheit, sie wieder aufzunehmen. Ja, vielleicht bringt diese von der Hand eines der namhaftesten Künstler den ausgeführten Entwurf zu einem Bilde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/121>, abgerufen am 03.07.2024.