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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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mung des gefallenen, verlassenen Mädchens läßt sich nicht einmal in Worten
klar aussprechen; nur in leidenschaftlichen Wiederholungen bloßer Gefühls¬
ausdrücke ringt sie sich aus der Tiefe der Seele hervor:

"Wohin ich immer gehe,
Wie weh, wie weh, wie wehe^
Wird mir im Busen hier,
Ich bin ach kaum alleine,
Ich wein', ich wein', ich weine,
Das Herz zerbricht in mir," -

oder sie legt sich in halbe bildliche Andeutungen nieder oder ergeht fiel) in
trüben flüchtigen Erinnerungen, in denen der Seele das Bild des eigenen
Kummers zu doppelt schmerzlicher Empfindung vorschwebt:

"Schien hell in meine Kammer
Die Sonne früh herauf,
Saß ich in allem Jammer,
In meinem Bett schon auf."

Durch den Zeichenstift läßt sich natürlich eine solche Stimmung, die aus
dem zusammengepreßten Herzen kaum in einzelnen Lauten und Worten her¬
vorbricht, in genügender Weise keineswegs wiedergeben; wird dies dennoch
v^'sucht, so kommt nur ein Bild des tiefsten Jammers überhaupt zu Tage,
in dem nichts von der unendlichen Liebe Gretchens'ist. und kein Gegenzug
^e ästhetische Harmonie des weiblichen Wesens wiederhergestellt. Das hat
Kaulbach wohl gefühlt; da er dennoch das betende Gretchen zum Borwurf
"ahn, blieb ihm nichts übrig, als die am Altar zusammengesunkene, die
Hände ringende Gestalt mit abgewendetem Gesichte zu bilden. Der Zug
'se in der Kunstgeschichte nicht neu; Timanthes, der das Opfer Jphigeniens
malte und in den Gesichtszügen der. Umstehenden die verschiedensten Grade
des Schmerzes ausdrückte, wußte den Jammer des Baders nicht anders dar¬
zustellen, als durch gänzliche Verhüllung des Hauptes. Allerdings nicht, wie
Valenus Maximus glaubt, weil sich das höchste Leid durch die bildende Kunst
nicht wiedergeben lasse, sondern, um mit Lessing zu reden, weil sich der über¬
mäßige Jammer des Vaters durch Verzerrungen äußert, die allezeit häßlich
sind. Mag nun Kaulbach die Züge Gretchens aus dem einen oder anderen
.Grunde uns verboten haben, entweder weil die Kunst ein vom absoluten
Schmerz zerwühltes Gesicht nicht darstellen soll, oder weil sie eine lyrische
Stimmung, die bloß in einzelnen Schwingungen auf der Oberfläche wieder¬
zittert, nicht darstellen kann: immerhin wirkt diese Gestalt, die ihr Haupt ber¬
gend sich zu Boden neigt, nicht, wie sie nach der Absicht des Künstlers wir¬
ken soll. Die Verhüllung des Vaters auf- des Timanthes Bild war ebenso
lchön als ausdrucksvoll, da der Beschauer den Gegenstand des Schmerzes


mung des gefallenen, verlassenen Mädchens läßt sich nicht einmal in Worten
klar aussprechen; nur in leidenschaftlichen Wiederholungen bloßer Gefühls¬
ausdrücke ringt sie sich aus der Tiefe der Seele hervor:

„Wohin ich immer gehe,
Wie weh, wie weh, wie wehe^
Wird mir im Busen hier,
Ich bin ach kaum alleine,
Ich wein', ich wein', ich weine,
Das Herz zerbricht in mir," -

oder sie legt sich in halbe bildliche Andeutungen nieder oder ergeht fiel) in
trüben flüchtigen Erinnerungen, in denen der Seele das Bild des eigenen
Kummers zu doppelt schmerzlicher Empfindung vorschwebt:

„Schien hell in meine Kammer
Die Sonne früh herauf,
Saß ich in allem Jammer,
In meinem Bett schon auf."

Durch den Zeichenstift läßt sich natürlich eine solche Stimmung, die aus
dem zusammengepreßten Herzen kaum in einzelnen Lauten und Worten her¬
vorbricht, in genügender Weise keineswegs wiedergeben; wird dies dennoch
v^'sucht, so kommt nur ein Bild des tiefsten Jammers überhaupt zu Tage,
in dem nichts von der unendlichen Liebe Gretchens'ist. und kein Gegenzug
^e ästhetische Harmonie des weiblichen Wesens wiederhergestellt. Das hat
Kaulbach wohl gefühlt; da er dennoch das betende Gretchen zum Borwurf
"ahn, blieb ihm nichts übrig, als die am Altar zusammengesunkene, die
Hände ringende Gestalt mit abgewendetem Gesichte zu bilden. Der Zug
'se in der Kunstgeschichte nicht neu; Timanthes, der das Opfer Jphigeniens
malte und in den Gesichtszügen der. Umstehenden die verschiedensten Grade
des Schmerzes ausdrückte, wußte den Jammer des Baders nicht anders dar¬
zustellen, als durch gänzliche Verhüllung des Hauptes. Allerdings nicht, wie
Valenus Maximus glaubt, weil sich das höchste Leid durch die bildende Kunst
nicht wiedergeben lasse, sondern, um mit Lessing zu reden, weil sich der über¬
mäßige Jammer des Vaters durch Verzerrungen äußert, die allezeit häßlich
sind. Mag nun Kaulbach die Züge Gretchens aus dem einen oder anderen
.Grunde uns verboten haben, entweder weil die Kunst ein vom absoluten
Schmerz zerwühltes Gesicht nicht darstellen soll, oder weil sie eine lyrische
Stimmung, die bloß in einzelnen Schwingungen auf der Oberfläche wieder¬
zittert, nicht darstellen kann: immerhin wirkt diese Gestalt, die ihr Haupt ber¬
gend sich zu Boden neigt, nicht, wie sie nach der Absicht des Künstlers wir¬
ken soll. Die Verhüllung des Vaters auf- des Timanthes Bild war ebenso
lchön als ausdrucksvoll, da der Beschauer den Gegenstand des Schmerzes


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[0065] mung des gefallenen, verlassenen Mädchens läßt sich nicht einmal in Worten klar aussprechen; nur in leidenschaftlichen Wiederholungen bloßer Gefühls¬ ausdrücke ringt sie sich aus der Tiefe der Seele hervor: „Wohin ich immer gehe, Wie weh, wie weh, wie wehe^ Wird mir im Busen hier, Ich bin ach kaum alleine, Ich wein', ich wein', ich weine, Das Herz zerbricht in mir," - oder sie legt sich in halbe bildliche Andeutungen nieder oder ergeht fiel) in trüben flüchtigen Erinnerungen, in denen der Seele das Bild des eigenen Kummers zu doppelt schmerzlicher Empfindung vorschwebt: „Schien hell in meine Kammer Die Sonne früh herauf, Saß ich in allem Jammer, In meinem Bett schon auf." Durch den Zeichenstift läßt sich natürlich eine solche Stimmung, die aus dem zusammengepreßten Herzen kaum in einzelnen Lauten und Worten her¬ vorbricht, in genügender Weise keineswegs wiedergeben; wird dies dennoch v^'sucht, so kommt nur ein Bild des tiefsten Jammers überhaupt zu Tage, in dem nichts von der unendlichen Liebe Gretchens'ist. und kein Gegenzug ^e ästhetische Harmonie des weiblichen Wesens wiederhergestellt. Das hat Kaulbach wohl gefühlt; da er dennoch das betende Gretchen zum Borwurf "ahn, blieb ihm nichts übrig, als die am Altar zusammengesunkene, die Hände ringende Gestalt mit abgewendetem Gesichte zu bilden. Der Zug 'se in der Kunstgeschichte nicht neu; Timanthes, der das Opfer Jphigeniens malte und in den Gesichtszügen der. Umstehenden die verschiedensten Grade des Schmerzes ausdrückte, wußte den Jammer des Baders nicht anders dar¬ zustellen, als durch gänzliche Verhüllung des Hauptes. Allerdings nicht, wie Valenus Maximus glaubt, weil sich das höchste Leid durch die bildende Kunst nicht wiedergeben lasse, sondern, um mit Lessing zu reden, weil sich der über¬ mäßige Jammer des Vaters durch Verzerrungen äußert, die allezeit häßlich sind. Mag nun Kaulbach die Züge Gretchens aus dem einen oder anderen .Grunde uns verboten haben, entweder weil die Kunst ein vom absoluten Schmerz zerwühltes Gesicht nicht darstellen soll, oder weil sie eine lyrische Stimmung, die bloß in einzelnen Schwingungen auf der Oberfläche wieder¬ zittert, nicht darstellen kann: immerhin wirkt diese Gestalt, die ihr Haupt ber¬ gend sich zu Boden neigt, nicht, wie sie nach der Absicht des Künstlers wir¬ ken soll. Die Verhüllung des Vaters auf- des Timanthes Bild war ebenso lchön als ausdrucksvoll, da der Beschauer den Gegenstand des Schmerzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/65>, abgerufen am 25.08.2024.