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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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brechende, dabei ohnmächtige Hilferuf war, überhaupt kein Gegenstand für den
Künstler. Die Malerei kann, wie bemerkt, ein- für allemal Affecte gewisser
Art nicht wiedergeben. Man wende nicht ein, daß der Malerei doch mehr
gestattet sein müsse, als was die Plastik sich erlaubt habe. Daß ein Silanion
die in Verzweiflung sich tödtende Jokastc, ein Ar.istonidas den von Reue und
Schaam tief bewegten Athamas gebildet habe; von den Philokteten, dem Lao-
koon, der Niobe zu schweigen. So oft auch die Alten heftige Gemüthsbe¬
wegungen zur Darstellung brachten: sie wußten immer, auch wo der Schmerz
den ganzen Körper zu durchwühlen schien, die Leidenschaft in ein gewisses Maß
Zu schließen, das ihr, ohne Sir abzuschwächen, die ästhetische Wirkung, die Wir¬
kung des Schönen sicherte, oder sie mit der Form und durch dieselbe zu versöhnen.
Entweder zeigte der Ausdruck bei aller Leidenschaft eine große gesetzte Seele, "wie
die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüthen"
(Winckelmann); oder der Künstler verstand es, seiner Gestalt trotz der Herr¬
schaft des Affectes mit dem Jneinanderspielen mannigfaltiger Kräfte die Un¬
endlichkeit des Lebens zu geben: "der Gewalt, des Leidens stand noch die
sanfte Duldung des Weibes oder die Kraft des Mannes gegenüber, über dem
Sturm der Gefühle blieb wenigstens der Thron des Geistes unerschüttert und
wies von der Stirne die Verwirrung zurück" (Feurbach). Und das beim
Maler, wie beim Bildhauer; die Medea des Timomachos war erst im Begriff,
die gräßliche That zu thun, noch stritt in ihr die Liebe mit der Rache, wie
sich in den unendlichem Schmerz der Niobe die Ergebenheit in das Schicksal
mischte. Aber selbst da, wo der Künstler ein Acußerstes der Leidenschaft oder
des Leidens zur Darstellung brachte, hielt er sein Gebilde in den Grenzen des
Schönen; der Affect zerriß nicht die Schönheit der Form, sondern immer um¬
schloß ihn als eine unerschütterliche Ordnung die schwungvolle Linie.

Wenn auch die Malerei als die Welt des in der Farbe unendlich gebroch-
nen Lichtes, welches das Innere wiederspiegelnd die Form dem Ausdruck nach¬
setzt, und als der Wiederschein des alle Kreise umfassenden Lebens weiter gehen
darf, als die alte Kunst sich erlaubte: so muß sie wenigstens dem die Form
zerstörenden Affect ein ästhetisches Gegengewicht geben, sei es durch den Aus¬
druck einer versöhnenden Empfindung in ebenderselben Person, sei es durch
die contrastirende Schönheit der Hauptgestalt. Niemals aber darf diese selbst
die absolute Erscheinung des Leidens sein, in der nichts zum Ausdruck käme,
als der heftige Affect. Bekanntlich scheute die christliche Kunst, in der Dar¬
stellung der Passionsgeschichte unerschöpflich, diesen höchsten Grad des Affectes
auch in einzelnen Hauptfiguren nicht; die Christusköpfe des Hugo van der
Goes und Rogier van der Weyde yeven ein Bild des tiefsten Elendes und
Schmerzes, in dem kein Zug von Geistesgröße und erhabener Duldung den
peinlichen Eindruck wieder aufhebt. Aber gerade dies war eine Schranke der


brechende, dabei ohnmächtige Hilferuf war, überhaupt kein Gegenstand für den
Künstler. Die Malerei kann, wie bemerkt, ein- für allemal Affecte gewisser
Art nicht wiedergeben. Man wende nicht ein, daß der Malerei doch mehr
gestattet sein müsse, als was die Plastik sich erlaubt habe. Daß ein Silanion
die in Verzweiflung sich tödtende Jokastc, ein Ar.istonidas den von Reue und
Schaam tief bewegten Athamas gebildet habe; von den Philokteten, dem Lao-
koon, der Niobe zu schweigen. So oft auch die Alten heftige Gemüthsbe¬
wegungen zur Darstellung brachten: sie wußten immer, auch wo der Schmerz
den ganzen Körper zu durchwühlen schien, die Leidenschaft in ein gewisses Maß
Zu schließen, das ihr, ohne Sir abzuschwächen, die ästhetische Wirkung, die Wir¬
kung des Schönen sicherte, oder sie mit der Form und durch dieselbe zu versöhnen.
Entweder zeigte der Ausdruck bei aller Leidenschaft eine große gesetzte Seele, „wie
die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüthen"
(Winckelmann); oder der Künstler verstand es, seiner Gestalt trotz der Herr¬
schaft des Affectes mit dem Jneinanderspielen mannigfaltiger Kräfte die Un¬
endlichkeit des Lebens zu geben: „der Gewalt, des Leidens stand noch die
sanfte Duldung des Weibes oder die Kraft des Mannes gegenüber, über dem
Sturm der Gefühle blieb wenigstens der Thron des Geistes unerschüttert und
wies von der Stirne die Verwirrung zurück" (Feurbach). Und das beim
Maler, wie beim Bildhauer; die Medea des Timomachos war erst im Begriff,
die gräßliche That zu thun, noch stritt in ihr die Liebe mit der Rache, wie
sich in den unendlichem Schmerz der Niobe die Ergebenheit in das Schicksal
mischte. Aber selbst da, wo der Künstler ein Acußerstes der Leidenschaft oder
des Leidens zur Darstellung brachte, hielt er sein Gebilde in den Grenzen des
Schönen; der Affect zerriß nicht die Schönheit der Form, sondern immer um¬
schloß ihn als eine unerschütterliche Ordnung die schwungvolle Linie.

Wenn auch die Malerei als die Welt des in der Farbe unendlich gebroch-
nen Lichtes, welches das Innere wiederspiegelnd die Form dem Ausdruck nach¬
setzt, und als der Wiederschein des alle Kreise umfassenden Lebens weiter gehen
darf, als die alte Kunst sich erlaubte: so muß sie wenigstens dem die Form
zerstörenden Affect ein ästhetisches Gegengewicht geben, sei es durch den Aus¬
druck einer versöhnenden Empfindung in ebenderselben Person, sei es durch
die contrastirende Schönheit der Hauptgestalt. Niemals aber darf diese selbst
die absolute Erscheinung des Leidens sein, in der nichts zum Ausdruck käme,
als der heftige Affect. Bekanntlich scheute die christliche Kunst, in der Dar¬
stellung der Passionsgeschichte unerschöpflich, diesen höchsten Grad des Affectes
auch in einzelnen Hauptfiguren nicht; die Christusköpfe des Hugo van der
Goes und Rogier van der Weyde yeven ein Bild des tiefsten Elendes und
Schmerzes, in dem kein Zug von Geistesgröße und erhabener Duldung den
peinlichen Eindruck wieder aufhebt. Aber gerade dies war eine Schranke der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/60>, abgerufen am 25.08.2024.