Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

splitternackt ausgezogen und in diesem Zustande in Kolonnen zurückgetrieben oder
laufen gelassen, wo sie dann dem Hohne oder der Grausamkeit der Bauern zum
Opfer fielen. Diese duldeten nicht einmal immer, daß sie, wie sie es oft ver¬
suchten, die Mündungen der Gewehre an ihre Köpfe oder ihre Herzen hielten,
um ihren Leiden auf die sicherste und schleunigste Weise ein Ende zu machen;
denn das Landvolk hielt eine solche Linderung der Qual "für eine Beleidi¬
gung des rächenden Gottes Rußlands, wodurch sie sich seines weiteren Schutzes
beraube" würden."

Ein merkwürdiges Beispiel dieses grausamen Wiedervergeltungsgeistes
zeigte sich bei der Verfolgung nach dem Gefecht bei Miasma.

Miloradowitsch. Benningsen, Korff und der englische General mit verschie¬
denen Anderen ritten auf der Straße ohngefähr V- Stunde von der Stadt
dahin, als sie auf eine Schaar von Bauerweibern stießen, die mit Stöcken
in der Hand um einen gefüllten Kiefernstamm tanzten, zu dessen beiden Seiten
ohngefähr 60 nackte Gefangene auf dem Boden lagen, mit den Köpfen aber
auf dem Baumstamme, auf welche diese Furien nach dem Takt eines National¬
liedes, das sie mit einander heulten, mit den Knitteln losschlugen, während
mehrere Hundert bewaffnete Bauern als Wächter dieser schrecklichen Orgie
ruhig zusahen. Als sich die Reiter näherten, stießen die unglücklichen Ge¬
quälten ein herzzerreißendes Gejammer aus und schrien unaufhörlich "ig, mort,
1a wort!"

In der Nähe von Dorogobusch wand sich eine junge und schöne Fran¬
zösin nackt im Schnee, der ringsum mit Blut befleckt war. Als sie Stimmen
hörte, erhob sie den Kopf, von welchem außerordentlich langes, schwarzes,
glänzendes Haar über ihre ganze Gestalt herunterfloß. Mit dem wildesten
Ausdruck der Seclenqual warf sie ihre Arme in die Höhe und rief fortwäh¬
rend, wie im Wahnwitz "lierräöö irwi nov erkant --" gebt mir mein Kind
zurück! Als man sie soweit beruhigt hatte, daß sie ihre Geschichte erzählen
konnte, berichtete sie. man habe ihr, wie sie aus Schwäche niedergesunken, ein
neugeborenes Kind geraubt; dann hätten ihre Begleiter ihr die Kleider vom
Leibe gerissen und ihr mehre Messerstiche versetzt, damit sie nicht lebendig in
die Hände der Verfolger falle.

Selbst unter den Russen gab es Beispiele -- und nicht selten -- daß
wohlwollend gesinnte und hochgebildete Männer zu Maßregeln von gleich un-
zurechtfertigendem Charakter schritten, um längeren Qualen ein Ende zu
wachen.

Ais General Benningsen und der englische Generat mit ihren Stäben sich
eines Tages auf dem Marsche befanden, stießen sie auf eine Colonne von 700
nackten Gefangenen, escortirt von Kosacken; diese Colonne hatte nach dem, bei
dem Aufbruch ausgestellten Schein, aus 1200 Mann bestanden und der Coa-


splitternackt ausgezogen und in diesem Zustande in Kolonnen zurückgetrieben oder
laufen gelassen, wo sie dann dem Hohne oder der Grausamkeit der Bauern zum
Opfer fielen. Diese duldeten nicht einmal immer, daß sie, wie sie es oft ver¬
suchten, die Mündungen der Gewehre an ihre Köpfe oder ihre Herzen hielten,
um ihren Leiden auf die sicherste und schleunigste Weise ein Ende zu machen;
denn das Landvolk hielt eine solche Linderung der Qual „für eine Beleidi¬
gung des rächenden Gottes Rußlands, wodurch sie sich seines weiteren Schutzes
beraube» würden."

Ein merkwürdiges Beispiel dieses grausamen Wiedervergeltungsgeistes
zeigte sich bei der Verfolgung nach dem Gefecht bei Miasma.

Miloradowitsch. Benningsen, Korff und der englische General mit verschie¬
denen Anderen ritten auf der Straße ohngefähr V- Stunde von der Stadt
dahin, als sie auf eine Schaar von Bauerweibern stießen, die mit Stöcken
in der Hand um einen gefüllten Kiefernstamm tanzten, zu dessen beiden Seiten
ohngefähr 60 nackte Gefangene auf dem Boden lagen, mit den Köpfen aber
auf dem Baumstamme, auf welche diese Furien nach dem Takt eines National¬
liedes, das sie mit einander heulten, mit den Knitteln losschlugen, während
mehrere Hundert bewaffnete Bauern als Wächter dieser schrecklichen Orgie
ruhig zusahen. Als sich die Reiter näherten, stießen die unglücklichen Ge¬
quälten ein herzzerreißendes Gejammer aus und schrien unaufhörlich „ig, mort,
1a wort!"

In der Nähe von Dorogobusch wand sich eine junge und schöne Fran¬
zösin nackt im Schnee, der ringsum mit Blut befleckt war. Als sie Stimmen
hörte, erhob sie den Kopf, von welchem außerordentlich langes, schwarzes,
glänzendes Haar über ihre ganze Gestalt herunterfloß. Mit dem wildesten
Ausdruck der Seclenqual warf sie ihre Arme in die Höhe und rief fortwäh¬
rend, wie im Wahnwitz „lierräöö irwi nov erkant —" gebt mir mein Kind
zurück! Als man sie soweit beruhigt hatte, daß sie ihre Geschichte erzählen
konnte, berichtete sie. man habe ihr, wie sie aus Schwäche niedergesunken, ein
neugeborenes Kind geraubt; dann hätten ihre Begleiter ihr die Kleider vom
Leibe gerissen und ihr mehre Messerstiche versetzt, damit sie nicht lebendig in
die Hände der Verfolger falle.

Selbst unter den Russen gab es Beispiele — und nicht selten — daß
wohlwollend gesinnte und hochgebildete Männer zu Maßregeln von gleich un-
zurechtfertigendem Charakter schritten, um längeren Qualen ein Ende zu
wachen.

Ais General Benningsen und der englische Generat mit ihren Stäben sich
eines Tages auf dem Marsche befanden, stießen sie auf eine Colonne von 700
nackten Gefangenen, escortirt von Kosacken; diese Colonne hatte nach dem, bei
dem Aufbruch ausgestellten Schein, aus 1200 Mann bestanden und der Coa-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111937"/>
          <p xml:id="ID_1969" prev="#ID_1968"> splitternackt ausgezogen und in diesem Zustande in Kolonnen zurückgetrieben oder<lb/>
laufen gelassen, wo sie dann dem Hohne oder der Grausamkeit der Bauern zum<lb/>
Opfer fielen. Diese duldeten nicht einmal immer, daß sie, wie sie es oft ver¬<lb/>
suchten, die Mündungen der Gewehre an ihre Köpfe oder ihre Herzen hielten,<lb/>
um ihren Leiden auf die sicherste und schleunigste Weise ein Ende zu machen;<lb/>
denn das Landvolk hielt eine solche Linderung der Qual &#x201E;für eine Beleidi¬<lb/>
gung des rächenden Gottes Rußlands, wodurch sie sich seines weiteren Schutzes<lb/>
beraube» würden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1970"> Ein merkwürdiges Beispiel dieses grausamen Wiedervergeltungsgeistes<lb/>
zeigte sich bei der Verfolgung nach dem Gefecht bei Miasma.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1971"> Miloradowitsch. Benningsen, Korff und der englische General mit verschie¬<lb/>
denen Anderen ritten auf der Straße ohngefähr V- Stunde von der Stadt<lb/>
dahin, als sie auf eine Schaar von Bauerweibern stießen, die mit Stöcken<lb/>
in der Hand um einen gefüllten Kiefernstamm tanzten, zu dessen beiden Seiten<lb/>
ohngefähr 60 nackte Gefangene auf dem Boden lagen, mit den Köpfen aber<lb/>
auf dem Baumstamme, auf welche diese Furien nach dem Takt eines National¬<lb/>
liedes, das sie mit einander heulten, mit den Knitteln losschlugen, während<lb/>
mehrere Hundert bewaffnete Bauern als Wächter dieser schrecklichen Orgie<lb/>
ruhig zusahen. Als sich die Reiter näherten, stießen die unglücklichen Ge¬<lb/>
quälten ein herzzerreißendes Gejammer aus und schrien unaufhörlich &#x201E;ig, mort,<lb/>
1a wort!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1972"> In der Nähe von Dorogobusch wand sich eine junge und schöne Fran¬<lb/>
zösin nackt im Schnee, der ringsum mit Blut befleckt war. Als sie Stimmen<lb/>
hörte, erhob sie den Kopf, von welchem außerordentlich langes, schwarzes,<lb/>
glänzendes Haar über ihre ganze Gestalt herunterfloß. Mit dem wildesten<lb/>
Ausdruck der Seclenqual warf sie ihre Arme in die Höhe und rief fortwäh¬<lb/>
rend, wie im Wahnwitz &#x201E;lierräöö irwi nov erkant &#x2014;" gebt mir mein Kind<lb/>
zurück! Als man sie soweit beruhigt hatte, daß sie ihre Geschichte erzählen<lb/>
konnte, berichtete sie. man habe ihr, wie sie aus Schwäche niedergesunken, ein<lb/>
neugeborenes Kind geraubt; dann hätten ihre Begleiter ihr die Kleider vom<lb/>
Leibe gerissen und ihr mehre Messerstiche versetzt, damit sie nicht lebendig in<lb/>
die Hände der Verfolger falle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1973"> Selbst unter den Russen gab es Beispiele &#x2014; und nicht selten &#x2014; daß<lb/>
wohlwollend gesinnte und hochgebildete Männer zu Maßregeln von gleich un-<lb/>
zurechtfertigendem Charakter schritten, um längeren Qualen ein Ende zu<lb/>
wachen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1974" next="#ID_1975"> Ais General Benningsen und der englische Generat mit ihren Stäben sich<lb/>
eines Tages auf dem Marsche befanden, stießen sie auf eine Colonne von 700<lb/>
nackten Gefangenen, escortirt von Kosacken; diese Colonne hatte nach dem, bei<lb/>
dem Aufbruch ausgestellten Schein, aus 1200 Mann bestanden und der Coa-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0505] splitternackt ausgezogen und in diesem Zustande in Kolonnen zurückgetrieben oder laufen gelassen, wo sie dann dem Hohne oder der Grausamkeit der Bauern zum Opfer fielen. Diese duldeten nicht einmal immer, daß sie, wie sie es oft ver¬ suchten, die Mündungen der Gewehre an ihre Köpfe oder ihre Herzen hielten, um ihren Leiden auf die sicherste und schleunigste Weise ein Ende zu machen; denn das Landvolk hielt eine solche Linderung der Qual „für eine Beleidi¬ gung des rächenden Gottes Rußlands, wodurch sie sich seines weiteren Schutzes beraube» würden." Ein merkwürdiges Beispiel dieses grausamen Wiedervergeltungsgeistes zeigte sich bei der Verfolgung nach dem Gefecht bei Miasma. Miloradowitsch. Benningsen, Korff und der englische General mit verschie¬ denen Anderen ritten auf der Straße ohngefähr V- Stunde von der Stadt dahin, als sie auf eine Schaar von Bauerweibern stießen, die mit Stöcken in der Hand um einen gefüllten Kiefernstamm tanzten, zu dessen beiden Seiten ohngefähr 60 nackte Gefangene auf dem Boden lagen, mit den Köpfen aber auf dem Baumstamme, auf welche diese Furien nach dem Takt eines National¬ liedes, das sie mit einander heulten, mit den Knitteln losschlugen, während mehrere Hundert bewaffnete Bauern als Wächter dieser schrecklichen Orgie ruhig zusahen. Als sich die Reiter näherten, stießen die unglücklichen Ge¬ quälten ein herzzerreißendes Gejammer aus und schrien unaufhörlich „ig, mort, 1a wort!" In der Nähe von Dorogobusch wand sich eine junge und schöne Fran¬ zösin nackt im Schnee, der ringsum mit Blut befleckt war. Als sie Stimmen hörte, erhob sie den Kopf, von welchem außerordentlich langes, schwarzes, glänzendes Haar über ihre ganze Gestalt herunterfloß. Mit dem wildesten Ausdruck der Seclenqual warf sie ihre Arme in die Höhe und rief fortwäh¬ rend, wie im Wahnwitz „lierräöö irwi nov erkant —" gebt mir mein Kind zurück! Als man sie soweit beruhigt hatte, daß sie ihre Geschichte erzählen konnte, berichtete sie. man habe ihr, wie sie aus Schwäche niedergesunken, ein neugeborenes Kind geraubt; dann hätten ihre Begleiter ihr die Kleider vom Leibe gerissen und ihr mehre Messerstiche versetzt, damit sie nicht lebendig in die Hände der Verfolger falle. Selbst unter den Russen gab es Beispiele — und nicht selten — daß wohlwollend gesinnte und hochgebildete Männer zu Maßregeln von gleich un- zurechtfertigendem Charakter schritten, um längeren Qualen ein Ende zu wachen. Ais General Benningsen und der englische Generat mit ihren Stäben sich eines Tages auf dem Marsche befanden, stießen sie auf eine Colonne von 700 nackten Gefangenen, escortirt von Kosacken; diese Colonne hatte nach dem, bei dem Aufbruch ausgestellten Schein, aus 1200 Mann bestanden und der Coa-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/505
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/505>, abgerufen am 25.08.2024.