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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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gnug der ersten mit der zweiten Armee zu bewerkstelligen, Um dann dem
Feind mit genügender Streitkraft entgegentreten zu können, bis nach Smo¬
lensk zurück. Als nun vollends Barclay auch die Räumung von Smolensk
anordnete, brach die Unzufriedenheit im russischen Hauptquartier fast in mili¬
tärische Meuterei aus. Die Persönlichkeiten, die dabei thätig waren, über¬
haupt das ganze Treiben im russischen Hauptquartier, hat uns Clausewitz
mit classischer Meisterhand schon vor Jahren geschildert, und Wolzogen und
Bernhardt in den Denkwürdigkeiten des General Toll, haben das Bild durch
manchen interessanten Zug bereichert und vollends ausgemalt. Aber ihnen
Allen ist ein höchst wichtiger Zwischenfall entgangen, den Wilson als un¬
mittelbar Betheiligter zum ersten Mal mittheilt. Die russischen unzufriedenen
Generäle, Benningsen und Bagration an ihrer Spitze, hatten nicht bloß ver¬
sucht durch eine gemeinsame Proiestation gegen die Räumung von Smolensk
den Oberbefehlshaber einzuschüchtern und ihn gewissermaßen zu einer Schlacht
zu zwingen, sondern beschlossen auch, als ihr Vorhaben an der Charakter¬
festigkeit Barclay's scheiterte, eine Deputation an den Kaiser Alexander nach
Se. Petersburg zu schicken und um einen neuen Führer für die Armee zu
bitten. War schon dieser Schritt ein außerordentlicher, so war ein zweiter
noch bedenklicher. Man bat nicht bloß um einen neuen Oberbefehlshaber,
sondern erklärte auch im Namen der Armee, man werde einen aus Peters¬
burg eintreffenden Befehl, die Feindseligkeiten einzustellen, und die Franzosen
als Freunde zu behandeln (was man für das eigentliche Ziel der Politik des
Kanzlers Rumänzow hielt, und was auch nach der Ansicht der russischen
Generäle die fortwährenden rückgängiger Bewegungen allein erklären konnte),
nicht als einen betrachten, der den wahren Willen Sr. kaiserl. Majestät aus¬
drücke, sondern als einen dem Kaiser durch falsche Darstellung der Sachlage
oder moralischen Zwang abgedrungenen; und daß das Heer den Krieg selb¬
ständig fortsetzen würde, bis der Feind über die Grenze zurückgetrieben sei.
Ein russischer General wagte eine solche außerordentliche Sendung nicht zu
übernehmen; denn wenn der Schritt auch jetzt im Drange einer stürmischen
Zeit unbestraft blieb, so wurde er doch gewiß nicht vergessen, und wer ihn
that, konnte in späterer Zeit mit Sicherheit auf strengste Ahndung rechnen.
Anders war es mit dem Abgesandten einer befreundeten Macht, der persönlich
das Vertrauen des Kaisers besaß und der dadurch, daß er politische Gründe
für die Nothwendigkeit der Fortsetzung des Krieges geltend machte, das per-
sönlich Verletzende, das für den Monarchen diese thatsächliche Aufkündigung
des Gehorsams von Seiten seiner Generäle haben mußte, in den Hintergrund
stellen konnte. Trotzdem blieb der Auftrag ein sehr seitlicher und daß Wilson
ihn übernahm, spricht für seinen selbstlosen Eifer für die gute Sache und für
eine, bei Diplomaten, selbst militärischen, seltene Freiheit von der Angst vor


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gnug der ersten mit der zweiten Armee zu bewerkstelligen, Um dann dem
Feind mit genügender Streitkraft entgegentreten zu können, bis nach Smo¬
lensk zurück. Als nun vollends Barclay auch die Räumung von Smolensk
anordnete, brach die Unzufriedenheit im russischen Hauptquartier fast in mili¬
tärische Meuterei aus. Die Persönlichkeiten, die dabei thätig waren, über¬
haupt das ganze Treiben im russischen Hauptquartier, hat uns Clausewitz
mit classischer Meisterhand schon vor Jahren geschildert, und Wolzogen und
Bernhardt in den Denkwürdigkeiten des General Toll, haben das Bild durch
manchen interessanten Zug bereichert und vollends ausgemalt. Aber ihnen
Allen ist ein höchst wichtiger Zwischenfall entgangen, den Wilson als un¬
mittelbar Betheiligter zum ersten Mal mittheilt. Die russischen unzufriedenen
Generäle, Benningsen und Bagration an ihrer Spitze, hatten nicht bloß ver¬
sucht durch eine gemeinsame Proiestation gegen die Räumung von Smolensk
den Oberbefehlshaber einzuschüchtern und ihn gewissermaßen zu einer Schlacht
zu zwingen, sondern beschlossen auch, als ihr Vorhaben an der Charakter¬
festigkeit Barclay's scheiterte, eine Deputation an den Kaiser Alexander nach
Se. Petersburg zu schicken und um einen neuen Führer für die Armee zu
bitten. War schon dieser Schritt ein außerordentlicher, so war ein zweiter
noch bedenklicher. Man bat nicht bloß um einen neuen Oberbefehlshaber,
sondern erklärte auch im Namen der Armee, man werde einen aus Peters¬
burg eintreffenden Befehl, die Feindseligkeiten einzustellen, und die Franzosen
als Freunde zu behandeln (was man für das eigentliche Ziel der Politik des
Kanzlers Rumänzow hielt, und was auch nach der Ansicht der russischen
Generäle die fortwährenden rückgängiger Bewegungen allein erklären konnte),
nicht als einen betrachten, der den wahren Willen Sr. kaiserl. Majestät aus¬
drücke, sondern als einen dem Kaiser durch falsche Darstellung der Sachlage
oder moralischen Zwang abgedrungenen; und daß das Heer den Krieg selb¬
ständig fortsetzen würde, bis der Feind über die Grenze zurückgetrieben sei.
Ein russischer General wagte eine solche außerordentliche Sendung nicht zu
übernehmen; denn wenn der Schritt auch jetzt im Drange einer stürmischen
Zeit unbestraft blieb, so wurde er doch gewiß nicht vergessen, und wer ihn
that, konnte in späterer Zeit mit Sicherheit auf strengste Ahndung rechnen.
Anders war es mit dem Abgesandten einer befreundeten Macht, der persönlich
das Vertrauen des Kaisers besaß und der dadurch, daß er politische Gründe
für die Nothwendigkeit der Fortsetzung des Krieges geltend machte, das per-
sönlich Verletzende, das für den Monarchen diese thatsächliche Aufkündigung
des Gehorsams von Seiten seiner Generäle haben mußte, in den Hintergrund
stellen konnte. Trotzdem blieb der Auftrag ein sehr seitlicher und daß Wilson
ihn übernahm, spricht für seinen selbstlosen Eifer für die gute Sache und für
eine, bei Diplomaten, selbst militärischen, seltene Freiheit von der Angst vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/493>, abgerufen am 24.08.2024.