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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Länder des hohen Nordens. Es gibt hier eßbare Kräuter. Früchte und
Wurzeln. Man baut sechs- und vierzeilige Wintergerste,' Hafer, Kartoffeln.
Rüben. Kohl und Erbsen. Von S-trauchobst gedeihen Erd-, Johannis- und
Stachelbeeren, von Baumfrüchten noch Aepfel. Die in den Mooren häufig
sich findenden Reste von Baumstämmen beweisen, daß es früher hier Wälder
gegeben hat. Bienen kommen hier ebenso wie in Norwegen vor, wo man
sie noch zehn Meilen nördlich von Drontheim in Stöcken pflegt und wo wilde
oder Erdbienen bis nach Finnmarken, ja bis ans Nordkap angetroffen wer¬
den. Findet somit die Angabe des Pytheas, daß man in Thule Honig ge¬
gessen, ihre Erklärung, so bietet seine Erwähnung des Hirsch größere Schwie¬
rigkeit. An unsern Kolbenhirse ist nicht zu denken, weil derselbe eine aus dem
Süden nach Europa eingeführte Culturpflanze ist. Ebensowenig darf man
auf Buchweizen oder Haidekorn rathen, da diese Getreideart zwar ähnliche
Körner wie der Hirse hat und ihrer Natur nach allerdings in kälteren Stri¬
chen noch gedeiht, aber erst durch die Kreuzzüge zu uns heraufkam. "Das
Beste wäre demnach", meint Ziegler. "den Manna-Hirse anzunehmen. Es
ist eine grasartige Pflanze, einheimisch in Deutschland, kommt auch in Sinnes
schwedischer Flora vor und gedeiht in ganz Norwegen bis nach Finnmarken
hinauf. Sie wächst auf feuchten Wiesen, sumpfigen, brüchigen Orten, sogar
halb im Wasser stehend, und ihre Frucht wird aus Schlesien und Polen noch
jetzt als Manna-Grütze in den Handel gebracht." Wenn es auf den ersten
Blick auffallen muß, daß Pytheas bei Aufführung der Nahrungsmittel des
Volkes von Thule der Fische nicht gedenkt, die doch eine Hauptspeise der
jetzigen Bewohner dieser Nordlandsinsein bilden, so läßt sich daraus ent¬
stehenden Zweifeln an der Identität Shetlands und Thule's mit dem Bericht
des Xiphilinus begegnen, nach welchem die alten kanonischen Stämme die
an ihren Küsten reichlich vorhandenen Fische auch niemals aßen.

Wie nun alle Angaben über Thule auf die Hauptinsel des Shetlands-
Archipels hinweisen, sich wenigstens mit der Lage und Natur derselben ver¬
einigen lassen, so läßt sich auch eine annähernde Erklärung für das finden,
was Pytheas von dem seltsamen Meer um oder über Thule berichtet. Wir
sahen, es sollte ein Gemisch von Lust, Land und Meer sein, etwas einer
Meerlunge Aehnliches. in welcher Erde und Wasser und Alles zusammen¬
schwebte, ein gleichsam das Ganze zusammenhaltendes Band, das weder zu
Fuß noch zu Schiffe erreichbar war. Das Lungenartige hatte der Reisende
selbst wahrgenommen, das Uebrige sich nur erzählen lassen. An einer andern
Stelle ist von einem "verdichteten Meer" (ntT?^?" ö"K"rr") in der Nähe
Thule's die Rede, an das auch Plinius jedenfalls dachte, wenn er von einem
"Ware cont-coin" eine Tagefahrt von Thule redet.

Ziegler unterscheidet nun das "Meerlungenartige", welches von Pytheas


Länder des hohen Nordens. Es gibt hier eßbare Kräuter. Früchte und
Wurzeln. Man baut sechs- und vierzeilige Wintergerste,' Hafer, Kartoffeln.
Rüben. Kohl und Erbsen. Von S-trauchobst gedeihen Erd-, Johannis- und
Stachelbeeren, von Baumfrüchten noch Aepfel. Die in den Mooren häufig
sich findenden Reste von Baumstämmen beweisen, daß es früher hier Wälder
gegeben hat. Bienen kommen hier ebenso wie in Norwegen vor, wo man
sie noch zehn Meilen nördlich von Drontheim in Stöcken pflegt und wo wilde
oder Erdbienen bis nach Finnmarken, ja bis ans Nordkap angetroffen wer¬
den. Findet somit die Angabe des Pytheas, daß man in Thule Honig ge¬
gessen, ihre Erklärung, so bietet seine Erwähnung des Hirsch größere Schwie¬
rigkeit. An unsern Kolbenhirse ist nicht zu denken, weil derselbe eine aus dem
Süden nach Europa eingeführte Culturpflanze ist. Ebensowenig darf man
auf Buchweizen oder Haidekorn rathen, da diese Getreideart zwar ähnliche
Körner wie der Hirse hat und ihrer Natur nach allerdings in kälteren Stri¬
chen noch gedeiht, aber erst durch die Kreuzzüge zu uns heraufkam. „Das
Beste wäre demnach", meint Ziegler. „den Manna-Hirse anzunehmen. Es
ist eine grasartige Pflanze, einheimisch in Deutschland, kommt auch in Sinnes
schwedischer Flora vor und gedeiht in ganz Norwegen bis nach Finnmarken
hinauf. Sie wächst auf feuchten Wiesen, sumpfigen, brüchigen Orten, sogar
halb im Wasser stehend, und ihre Frucht wird aus Schlesien und Polen noch
jetzt als Manna-Grütze in den Handel gebracht." Wenn es auf den ersten
Blick auffallen muß, daß Pytheas bei Aufführung der Nahrungsmittel des
Volkes von Thule der Fische nicht gedenkt, die doch eine Hauptspeise der
jetzigen Bewohner dieser Nordlandsinsein bilden, so läßt sich daraus ent¬
stehenden Zweifeln an der Identität Shetlands und Thule's mit dem Bericht
des Xiphilinus begegnen, nach welchem die alten kanonischen Stämme die
an ihren Küsten reichlich vorhandenen Fische auch niemals aßen.

Wie nun alle Angaben über Thule auf die Hauptinsel des Shetlands-
Archipels hinweisen, sich wenigstens mit der Lage und Natur derselben ver¬
einigen lassen, so läßt sich auch eine annähernde Erklärung für das finden,
was Pytheas von dem seltsamen Meer um oder über Thule berichtet. Wir
sahen, es sollte ein Gemisch von Lust, Land und Meer sein, etwas einer
Meerlunge Aehnliches. in welcher Erde und Wasser und Alles zusammen¬
schwebte, ein gleichsam das Ganze zusammenhaltendes Band, das weder zu
Fuß noch zu Schiffe erreichbar war. Das Lungenartige hatte der Reisende
selbst wahrgenommen, das Uebrige sich nur erzählen lassen. An einer andern
Stelle ist von einem „verdichteten Meer" (ntT?^?« ö«K«rr«) in der Nähe
Thule's die Rede, an das auch Plinius jedenfalls dachte, wenn er von einem
„Ware cont-coin" eine Tagefahrt von Thule redet.

Ziegler unterscheidet nun das „Meerlungenartige", welches von Pytheas


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[0031] Länder des hohen Nordens. Es gibt hier eßbare Kräuter. Früchte und Wurzeln. Man baut sechs- und vierzeilige Wintergerste,' Hafer, Kartoffeln. Rüben. Kohl und Erbsen. Von S-trauchobst gedeihen Erd-, Johannis- und Stachelbeeren, von Baumfrüchten noch Aepfel. Die in den Mooren häufig sich findenden Reste von Baumstämmen beweisen, daß es früher hier Wälder gegeben hat. Bienen kommen hier ebenso wie in Norwegen vor, wo man sie noch zehn Meilen nördlich von Drontheim in Stöcken pflegt und wo wilde oder Erdbienen bis nach Finnmarken, ja bis ans Nordkap angetroffen wer¬ den. Findet somit die Angabe des Pytheas, daß man in Thule Honig ge¬ gessen, ihre Erklärung, so bietet seine Erwähnung des Hirsch größere Schwie¬ rigkeit. An unsern Kolbenhirse ist nicht zu denken, weil derselbe eine aus dem Süden nach Europa eingeführte Culturpflanze ist. Ebensowenig darf man auf Buchweizen oder Haidekorn rathen, da diese Getreideart zwar ähnliche Körner wie der Hirse hat und ihrer Natur nach allerdings in kälteren Stri¬ chen noch gedeiht, aber erst durch die Kreuzzüge zu uns heraufkam. „Das Beste wäre demnach", meint Ziegler. „den Manna-Hirse anzunehmen. Es ist eine grasartige Pflanze, einheimisch in Deutschland, kommt auch in Sinnes schwedischer Flora vor und gedeiht in ganz Norwegen bis nach Finnmarken hinauf. Sie wächst auf feuchten Wiesen, sumpfigen, brüchigen Orten, sogar halb im Wasser stehend, und ihre Frucht wird aus Schlesien und Polen noch jetzt als Manna-Grütze in den Handel gebracht." Wenn es auf den ersten Blick auffallen muß, daß Pytheas bei Aufführung der Nahrungsmittel des Volkes von Thule der Fische nicht gedenkt, die doch eine Hauptspeise der jetzigen Bewohner dieser Nordlandsinsein bilden, so läßt sich daraus ent¬ stehenden Zweifeln an der Identität Shetlands und Thule's mit dem Bericht des Xiphilinus begegnen, nach welchem die alten kanonischen Stämme die an ihren Küsten reichlich vorhandenen Fische auch niemals aßen. Wie nun alle Angaben über Thule auf die Hauptinsel des Shetlands- Archipels hinweisen, sich wenigstens mit der Lage und Natur derselben ver¬ einigen lassen, so läßt sich auch eine annähernde Erklärung für das finden, was Pytheas von dem seltsamen Meer um oder über Thule berichtet. Wir sahen, es sollte ein Gemisch von Lust, Land und Meer sein, etwas einer Meerlunge Aehnliches. in welcher Erde und Wasser und Alles zusammen¬ schwebte, ein gleichsam das Ganze zusammenhaltendes Band, das weder zu Fuß noch zu Schiffe erreichbar war. Das Lungenartige hatte der Reisende selbst wahrgenommen, das Uebrige sich nur erzählen lassen. An einer andern Stelle ist von einem „verdichteten Meer" (ntT?^?« ö«K«rr«) in der Nähe Thule's die Rede, an das auch Plinius jedenfalls dachte, wenn er von einem „Ware cont-coin" eine Tagefahrt von Thule redet. Ziegler unterscheidet nun das „Meerlungenartige", welches von Pytheas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/31>, abgerufen am 25.08.2024.