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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Leben darin hat bleierne Fittige, es senkt sich schwer zum Thäte herab und
wird zum Sumpf. -- es ist Apathie.

Eine eigene Ruhe liegt auch über dem Geiste der Menschen. Die Par¬
allele ist vollständig.

Du kehrst heim von einem Spaziergange über die stummen Berge, durch
die duftlvsen Thäler und wandelst durch die Straßen der Stadt. Nichts von
dem Geräusch und Lärm der alten Welt. Keine Karossen, die über das Stein¬
pflaster dahin donnern, keine tobende Menschenmenge, keine Tanzmusik, keine
Prügelei, nicht einmal ein zorniges Wort dringt zu deinem Ohr. In den
offenen Läden, halb auf der Straße, hocken Gruppen um das nie fehlende
Kohlenbecken; sie rauchen oder sie schreiben in ihren Büchern. Wo sie den
Fremden gewohnt sind, blinzeln sie nur herüber und fahren schweigend in ih¬
rer Beschäftigung sort. Nirgends etwas von dem wüsten Lärm, der bei uns
als der unzertrennliche Gefährte einer hochgeschraubten Cultur erscheint. Selbst
die Kinder sind hier schon gesittet; unser "Straßenjunge" ist ein in Japan
fehlender Begriff.

Wer wollte ernstlich einen Einwand erheben gegen diese Gleichmäßigkeit
der Gesittung! Indessen -- das Ideale ist zwar göttlich, aber eben darum
ist es nicht ganz menschlich. Unsere Phantasie erschafft Engel und Feen; aber
wenn sie Fleisch und Blut würden und es vergönnt wäre, in ihre Gesellschaft
einzutreten, so glaube ich. daß wir uns in kürzester Frist langweilen würden.
In dieser Stille und ununterbrochenen glatten Gesittung liegt etwas Eigen¬
thümliches und Unerklärliches und darum fast Unheimliches, und ich gestehe
offen, daß ich, als ich eines Tages in Jokuhama einem Trupp amerikanischer
Matrosen begegnete, die an Land beurlaubt waren, ein aufrichtiges Behagen
an dem ersten kräftigen Fluche empfand, der zu meinem Ohre drang; ja ich
konnte mit Vergnügen stehen bleiben und zusehen, wie zwei Betrunkene sich
boxten. Es war doch Lebensäußerung. Muskelanspannung.

Apathie in der Landschaft, Apathie im ganzen socialen Organismus.
Es geschieht nichts. Die Geschichte Japans ist eine dürre Haide, nur unter¬
brochen durch vulkanische Eruptionen, durch Revolutionen, bei denen es sich
um c.inen gleichgiltigen Personenwechsel handelt. Kein stetig fortbrausender
Dampfzug geistigen Fortschritts, keine industrielle Vervollkommnung, keine
aufregende oder auch nur anregende Tagespresse. Es geschieht nichts und
wird nichts. Das früher Gewordene vegetirt in festen und unveränderlichen
Formen. Ich bin überzeugt, daß in Japan seit Jahrtausenden keine neue
Pflanzen- oder Thier-Varietät entstanden ist. Dieselbe Erziehung, derselbe
Gedankengang, derselbe eng begrenzte Kreis von Rechten und Pflichten ver¬
erben sich von Geschlecht zu Geschlecht. Es muß schwer sein für die Japaner,
einen neuen Roman mit einer neuen Verwickelung zu schassen; ein Zeitungs'


Leben darin hat bleierne Fittige, es senkt sich schwer zum Thäte herab und
wird zum Sumpf. — es ist Apathie.

Eine eigene Ruhe liegt auch über dem Geiste der Menschen. Die Par¬
allele ist vollständig.

Du kehrst heim von einem Spaziergange über die stummen Berge, durch
die duftlvsen Thäler und wandelst durch die Straßen der Stadt. Nichts von
dem Geräusch und Lärm der alten Welt. Keine Karossen, die über das Stein¬
pflaster dahin donnern, keine tobende Menschenmenge, keine Tanzmusik, keine
Prügelei, nicht einmal ein zorniges Wort dringt zu deinem Ohr. In den
offenen Läden, halb auf der Straße, hocken Gruppen um das nie fehlende
Kohlenbecken; sie rauchen oder sie schreiben in ihren Büchern. Wo sie den
Fremden gewohnt sind, blinzeln sie nur herüber und fahren schweigend in ih¬
rer Beschäftigung sort. Nirgends etwas von dem wüsten Lärm, der bei uns
als der unzertrennliche Gefährte einer hochgeschraubten Cultur erscheint. Selbst
die Kinder sind hier schon gesittet; unser „Straßenjunge" ist ein in Japan
fehlender Begriff.

Wer wollte ernstlich einen Einwand erheben gegen diese Gleichmäßigkeit
der Gesittung! Indessen — das Ideale ist zwar göttlich, aber eben darum
ist es nicht ganz menschlich. Unsere Phantasie erschafft Engel und Feen; aber
wenn sie Fleisch und Blut würden und es vergönnt wäre, in ihre Gesellschaft
einzutreten, so glaube ich. daß wir uns in kürzester Frist langweilen würden.
In dieser Stille und ununterbrochenen glatten Gesittung liegt etwas Eigen¬
thümliches und Unerklärliches und darum fast Unheimliches, und ich gestehe
offen, daß ich, als ich eines Tages in Jokuhama einem Trupp amerikanischer
Matrosen begegnete, die an Land beurlaubt waren, ein aufrichtiges Behagen
an dem ersten kräftigen Fluche empfand, der zu meinem Ohre drang; ja ich
konnte mit Vergnügen stehen bleiben und zusehen, wie zwei Betrunkene sich
boxten. Es war doch Lebensäußerung. Muskelanspannung.

Apathie in der Landschaft, Apathie im ganzen socialen Organismus.
Es geschieht nichts. Die Geschichte Japans ist eine dürre Haide, nur unter¬
brochen durch vulkanische Eruptionen, durch Revolutionen, bei denen es sich
um c.inen gleichgiltigen Personenwechsel handelt. Kein stetig fortbrausender
Dampfzug geistigen Fortschritts, keine industrielle Vervollkommnung, keine
aufregende oder auch nur anregende Tagespresse. Es geschieht nichts und
wird nichts. Das früher Gewordene vegetirt in festen und unveränderlichen
Formen. Ich bin überzeugt, daß in Japan seit Jahrtausenden keine neue
Pflanzen- oder Thier-Varietät entstanden ist. Dieselbe Erziehung, derselbe
Gedankengang, derselbe eng begrenzte Kreis von Rechten und Pflichten ver¬
erben sich von Geschlecht zu Geschlecht. Es muß schwer sein für die Japaner,
einen neuen Roman mit einer neuen Verwickelung zu schassen; ein Zeitungs'


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[0278] Leben darin hat bleierne Fittige, es senkt sich schwer zum Thäte herab und wird zum Sumpf. — es ist Apathie. Eine eigene Ruhe liegt auch über dem Geiste der Menschen. Die Par¬ allele ist vollständig. Du kehrst heim von einem Spaziergange über die stummen Berge, durch die duftlvsen Thäler und wandelst durch die Straßen der Stadt. Nichts von dem Geräusch und Lärm der alten Welt. Keine Karossen, die über das Stein¬ pflaster dahin donnern, keine tobende Menschenmenge, keine Tanzmusik, keine Prügelei, nicht einmal ein zorniges Wort dringt zu deinem Ohr. In den offenen Läden, halb auf der Straße, hocken Gruppen um das nie fehlende Kohlenbecken; sie rauchen oder sie schreiben in ihren Büchern. Wo sie den Fremden gewohnt sind, blinzeln sie nur herüber und fahren schweigend in ih¬ rer Beschäftigung sort. Nirgends etwas von dem wüsten Lärm, der bei uns als der unzertrennliche Gefährte einer hochgeschraubten Cultur erscheint. Selbst die Kinder sind hier schon gesittet; unser „Straßenjunge" ist ein in Japan fehlender Begriff. Wer wollte ernstlich einen Einwand erheben gegen diese Gleichmäßigkeit der Gesittung! Indessen — das Ideale ist zwar göttlich, aber eben darum ist es nicht ganz menschlich. Unsere Phantasie erschafft Engel und Feen; aber wenn sie Fleisch und Blut würden und es vergönnt wäre, in ihre Gesellschaft einzutreten, so glaube ich. daß wir uns in kürzester Frist langweilen würden. In dieser Stille und ununterbrochenen glatten Gesittung liegt etwas Eigen¬ thümliches und Unerklärliches und darum fast Unheimliches, und ich gestehe offen, daß ich, als ich eines Tages in Jokuhama einem Trupp amerikanischer Matrosen begegnete, die an Land beurlaubt waren, ein aufrichtiges Behagen an dem ersten kräftigen Fluche empfand, der zu meinem Ohre drang; ja ich konnte mit Vergnügen stehen bleiben und zusehen, wie zwei Betrunkene sich boxten. Es war doch Lebensäußerung. Muskelanspannung. Apathie in der Landschaft, Apathie im ganzen socialen Organismus. Es geschieht nichts. Die Geschichte Japans ist eine dürre Haide, nur unter¬ brochen durch vulkanische Eruptionen, durch Revolutionen, bei denen es sich um c.inen gleichgiltigen Personenwechsel handelt. Kein stetig fortbrausender Dampfzug geistigen Fortschritts, keine industrielle Vervollkommnung, keine aufregende oder auch nur anregende Tagespresse. Es geschieht nichts und wird nichts. Das früher Gewordene vegetirt in festen und unveränderlichen Formen. Ich bin überzeugt, daß in Japan seit Jahrtausenden keine neue Pflanzen- oder Thier-Varietät entstanden ist. Dieselbe Erziehung, derselbe Gedankengang, derselbe eng begrenzte Kreis von Rechten und Pflichten ver¬ erben sich von Geschlecht zu Geschlecht. Es muß schwer sein für die Japaner, einen neuen Roman mit einer neuen Verwickelung zu schassen; ein Zeitungs'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/278>, abgerufen am 26.08.2024.