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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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verschleiert, der Norden in nächtliches Dunkel gehüllt, bis das Weltreich, das
sich im Westen neben den Trümmern des großen Östreichs der macedmüschen
Halbgnechen entwickelt, sich über die Alpen ausdehnte, die Wilden Galliens
bezwang und zuletzt selbst jenseits des Kanals seine Adler aufpflanzte. Aller¬
dings hatte der Wassensturm der Brennuskrieger. der Zug Hannibals und der
Einbruch der Cimbern und Teutonen zur Genüge gezeigt, daß jenseits der
Berge auch Leut'e wohnten, und allerdings waren schon lange vor Cäsar, der
durch Eroberung Galliens in der Geschichte fast in demselben Maß eine neue
Epoche begann, wie später die Spanier durch die Unterwerfung Mexikos und
Perus, wahrscheinlich schon im fünften Jahrhundert semitische Schiffer bis
hoch in den Norden vorgedrungen, um Zinn und Bernstein zu holen (ver¬
muthlich von den Scylliinseln ein der Südwestspitze von England) und Py-
theas von Massilia, der mindestens ebenso weit kam, wird nicht der einzige
Reisende in diesen Breiten gewesen sein. Allein die Berichte dieser Weit¬
gereisten klangen so fabelhaft, und die Verlockung zu lebhafterem Verkehr mit
dem fernen Nordland war bei dessen Armuth für den Bewohner des Mittel¬
meergeländes so gering, daß beinahe Alles, was im Norden und Osten der
Nordsee liegt, selbst in Strabos Tagen, fast auf dem Höhenpunkt der alten Geo¬
graphie, nur in unbestimmten, von den Einen so. von den Andern anders
gedeuteten Umrissen bekannt war.

^Erst unter Claudius wurde festgestellt, daß Britannien eine Insel sei,
und daß Irland an der westlichen Seite derselben, nicht, wie man bis dahin
gemeint,, im Norden liege. Bei derselben Gelegenheit entdeckte und unterwarf
Man nach Tacitus die Orkaden und sah in der Ferne Thyle, welches schon
jener Pytheas von Massilia besucht und unter dem Namen Thule als den
nördlichsten Punkt seiner Reise beschrieben hatte. Auch von Jütland und Nor¬
wegen hatte man nach Plinius einige Kunde. Aber völlig Gewisses über die
Lage dieser Punkte und die Verhältnisse ihrer Bewohner zu besitzen, konnte
man nicht behaupten. Am wenigsten wollten gewissenhafte Geographen dies
in Betreff Thules wagen, von dem der Einzige, der sich rühmte, es betreten
zu haben,'die seltsamsten Dinge berichtet hatte, und so blieb das Land, das
man sich in der Regel als Insel vorstellte, bis zum Erlöschen der Wissenschaft
des Alterthums Gegenstand der bloßen Vermuthung und des Zweifels. Strabo
nennt Pytheas geradezu einen Lügner. Nachdem er von Jerne (Irland)
gesprochen und bemerkt, daß man von dieser Insel nichts zu sagen wisse, als
daß sie nördlich von Bretanike (Britannien) liege, und daß ihre Bewohner es
für anständig hielten,- ihre verstorbenen Eltern zu verspeisen, sagt er: "Noch
unsicherer ist die Kunde von Thule w'egen ihrer Entlegenheit; denn Thule setzt
man" von allen bekannten Ländern am höchsten nach Norden. Daß aber Alles,
was Pytheas über dieses wie über die andern Lander jenes Striches vor-


verschleiert, der Norden in nächtliches Dunkel gehüllt, bis das Weltreich, das
sich im Westen neben den Trümmern des großen Östreichs der macedmüschen
Halbgnechen entwickelt, sich über die Alpen ausdehnte, die Wilden Galliens
bezwang und zuletzt selbst jenseits des Kanals seine Adler aufpflanzte. Aller¬
dings hatte der Wassensturm der Brennuskrieger. der Zug Hannibals und der
Einbruch der Cimbern und Teutonen zur Genüge gezeigt, daß jenseits der
Berge auch Leut'e wohnten, und allerdings waren schon lange vor Cäsar, der
durch Eroberung Galliens in der Geschichte fast in demselben Maß eine neue
Epoche begann, wie später die Spanier durch die Unterwerfung Mexikos und
Perus, wahrscheinlich schon im fünften Jahrhundert semitische Schiffer bis
hoch in den Norden vorgedrungen, um Zinn und Bernstein zu holen (ver¬
muthlich von den Scylliinseln ein der Südwestspitze von England) und Py-
theas von Massilia, der mindestens ebenso weit kam, wird nicht der einzige
Reisende in diesen Breiten gewesen sein. Allein die Berichte dieser Weit¬
gereisten klangen so fabelhaft, und die Verlockung zu lebhafterem Verkehr mit
dem fernen Nordland war bei dessen Armuth für den Bewohner des Mittel¬
meergeländes so gering, daß beinahe Alles, was im Norden und Osten der
Nordsee liegt, selbst in Strabos Tagen, fast auf dem Höhenpunkt der alten Geo¬
graphie, nur in unbestimmten, von den Einen so. von den Andern anders
gedeuteten Umrissen bekannt war.

^Erst unter Claudius wurde festgestellt, daß Britannien eine Insel sei,
und daß Irland an der westlichen Seite derselben, nicht, wie man bis dahin
gemeint,, im Norden liege. Bei derselben Gelegenheit entdeckte und unterwarf
Man nach Tacitus die Orkaden und sah in der Ferne Thyle, welches schon
jener Pytheas von Massilia besucht und unter dem Namen Thule als den
nördlichsten Punkt seiner Reise beschrieben hatte. Auch von Jütland und Nor¬
wegen hatte man nach Plinius einige Kunde. Aber völlig Gewisses über die
Lage dieser Punkte und die Verhältnisse ihrer Bewohner zu besitzen, konnte
man nicht behaupten. Am wenigsten wollten gewissenhafte Geographen dies
in Betreff Thules wagen, von dem der Einzige, der sich rühmte, es betreten
zu haben,'die seltsamsten Dinge berichtet hatte, und so blieb das Land, das
man sich in der Regel als Insel vorstellte, bis zum Erlöschen der Wissenschaft
des Alterthums Gegenstand der bloßen Vermuthung und des Zweifels. Strabo
nennt Pytheas geradezu einen Lügner. Nachdem er von Jerne (Irland)
gesprochen und bemerkt, daß man von dieser Insel nichts zu sagen wisse, als
daß sie nördlich von Bretanike (Britannien) liege, und daß ihre Bewohner es
für anständig hielten,- ihre verstorbenen Eltern zu verspeisen, sagt er: „Noch
unsicherer ist die Kunde von Thule w'egen ihrer Entlegenheit; denn Thule setzt
man» von allen bekannten Ländern am höchsten nach Norden. Daß aber Alles,
was Pytheas über dieses wie über die andern Lander jenes Striches vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/26>, abgerufen am 22.07.2024.