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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Leidenschaft, auch des Willens. Und sind sie auf der Höhe angelangt, von
welcher ab die Starken durch übermächtige Gewalten abwärts gezogen wer¬
den, hat die Spannung sich in einem verhängnißvollen Thun für den Augen¬
blick gelöst, dann kommen in mehren Stücken ausgeführte Situationen und
Detailschilderungen, das Größte, was die Poesie des Dramas hervorgebracht
hat. Die Dolchscene im Macbeth, die Brautnacht in Romeo und Julia, das
Hüttcngericht im Lear, der Besuch bei der Mutter im Hamlet. Conolan am
Altar des Aufidius sind Beispiele. Zuweilen scheint von diesem Momente ab das
Interesse des Dichters an den Charakteren geringer zu werden, man begegnet
noch einzelnen großen Schönheiten, aber sie sind Episoden wie im Cäsar.
Allerdings liegt der Hauptgrund der schwächeren Wirkung seiner vierten Acte --
der Umkehr -- nicht vorzugsweise in den Charakteren, sondern im Bau seiner
Handlungen, aber zuweilen leiden auch die Personen selbst unter der Zerstücke¬
lung. So Macbeth, vor allem Lear, dessen zweites Auftreten im Wahnsinn
wie eine Wiederholung mehr peinlich als wirksam ist. selbst Hamlet, in wel¬
chem die Kirchhofscene -- wie berühmt ihre Reflexionen auch sind -- und der
Schluß durchaus gegen die Spannung der ersten Hälfte abfallen. Beim
Coriolan freilich liegen die beiden schönsten Scenen in der zweiten Hälfte des
Stückes, ebenso im Othello die gewaltigsten; das letztere Stück hat aber an¬
dere technische Besonderheiten.

Wenn Shakespeares Art zu charakterisiren schon für die Schauspieler seinerZeit
Zuweilen dunkel und schwer war, so ist natürlich, daß wir seine Eigenthüm¬
lichkeiten sehr lebhaft empfinden. Denn kein größerer'Gegensatz ist denkbar,
als die Behandlung der Charaktere bei ihm und bei den tragischen Dichtern der
Deutschen: Lessing. Goethe. Schiller. Wie wir bei Shakespeare durch die
Verschlossenheit mancher Nebencharaktere daran erinnert werden, daß er der
Mischen Zeit des Mittelalters noch nahe stand, so haben unsere dramatischen
Charaktere bis zum Ueberfluß die Eigenschaften einer lyrischen Bildungsperiode,
°>ne fortlaufende, breite und behagliche Darstellung innerer Zustände, über
Welche die Individuen mit einer zuweilen unheimlichen Selbstbeobachtung
reflectiren, dazu Sentenzen, welche den jedesmaligen Standpunkt des Cha¬
rters zu der sittlichen Ordnung zweifellos deutlich machen. Bei den Deut-
schen ist nichts Dunkles, und wenig Gewaltsames. Kleist ausgenommen.

Von den großen Dichtern der Deutschen hat Lessing am besten verstan¬
dn, seine Charaktere in dem Wellenschlage heftiger dramatischer Bewegung
darzustellen. Unter den Kunstgenossen wird die poetische Kraft des Ein¬
zelnen zumeist nach seinen Charakteren geschützt/ weil bei ihnen die Natur
des Dichters am meisten thut, die Kunst nur wenig. Und gerade im Cha¬
rakterisiren ist Lessing groß und bewundernswerth; der Reichthum an De¬
tail, die Wirkung schlagender Lebensüußerungen, welche sowol durch Schön-


Leidenschaft, auch des Willens. Und sind sie auf der Höhe angelangt, von
welcher ab die Starken durch übermächtige Gewalten abwärts gezogen wer¬
den, hat die Spannung sich in einem verhängnißvollen Thun für den Augen¬
blick gelöst, dann kommen in mehren Stücken ausgeführte Situationen und
Detailschilderungen, das Größte, was die Poesie des Dramas hervorgebracht
hat. Die Dolchscene im Macbeth, die Brautnacht in Romeo und Julia, das
Hüttcngericht im Lear, der Besuch bei der Mutter im Hamlet. Conolan am
Altar des Aufidius sind Beispiele. Zuweilen scheint von diesem Momente ab das
Interesse des Dichters an den Charakteren geringer zu werden, man begegnet
noch einzelnen großen Schönheiten, aber sie sind Episoden wie im Cäsar.
Allerdings liegt der Hauptgrund der schwächeren Wirkung seiner vierten Acte —
der Umkehr — nicht vorzugsweise in den Charakteren, sondern im Bau seiner
Handlungen, aber zuweilen leiden auch die Personen selbst unter der Zerstücke¬
lung. So Macbeth, vor allem Lear, dessen zweites Auftreten im Wahnsinn
wie eine Wiederholung mehr peinlich als wirksam ist. selbst Hamlet, in wel¬
chem die Kirchhofscene — wie berühmt ihre Reflexionen auch sind — und der
Schluß durchaus gegen die Spannung der ersten Hälfte abfallen. Beim
Coriolan freilich liegen die beiden schönsten Scenen in der zweiten Hälfte des
Stückes, ebenso im Othello die gewaltigsten; das letztere Stück hat aber an¬
dere technische Besonderheiten.

Wenn Shakespeares Art zu charakterisiren schon für die Schauspieler seinerZeit
Zuweilen dunkel und schwer war, so ist natürlich, daß wir seine Eigenthüm¬
lichkeiten sehr lebhaft empfinden. Denn kein größerer'Gegensatz ist denkbar,
als die Behandlung der Charaktere bei ihm und bei den tragischen Dichtern der
Deutschen: Lessing. Goethe. Schiller. Wie wir bei Shakespeare durch die
Verschlossenheit mancher Nebencharaktere daran erinnert werden, daß er der
Mischen Zeit des Mittelalters noch nahe stand, so haben unsere dramatischen
Charaktere bis zum Ueberfluß die Eigenschaften einer lyrischen Bildungsperiode,
°>ne fortlaufende, breite und behagliche Darstellung innerer Zustände, über
Welche die Individuen mit einer zuweilen unheimlichen Selbstbeobachtung
reflectiren, dazu Sentenzen, welche den jedesmaligen Standpunkt des Cha¬
rters zu der sittlichen Ordnung zweifellos deutlich machen. Bei den Deut-
schen ist nichts Dunkles, und wenig Gewaltsames. Kleist ausgenommen.

Von den großen Dichtern der Deutschen hat Lessing am besten verstan¬
dn, seine Charaktere in dem Wellenschlage heftiger dramatischer Bewegung
darzustellen. Unter den Kunstgenossen wird die poetische Kraft des Ein¬
zelnen zumeist nach seinen Charakteren geschützt/ weil bei ihnen die Natur
des Dichters am meisten thut, die Kunst nur wenig. Und gerade im Cha¬
rakterisiren ist Lessing groß und bewundernswerth; der Reichthum an De¬
tail, die Wirkung schlagender Lebensüußerungen, welche sowol durch Schön-


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[0153] Leidenschaft, auch des Willens. Und sind sie auf der Höhe angelangt, von welcher ab die Starken durch übermächtige Gewalten abwärts gezogen wer¬ den, hat die Spannung sich in einem verhängnißvollen Thun für den Augen¬ blick gelöst, dann kommen in mehren Stücken ausgeführte Situationen und Detailschilderungen, das Größte, was die Poesie des Dramas hervorgebracht hat. Die Dolchscene im Macbeth, die Brautnacht in Romeo und Julia, das Hüttcngericht im Lear, der Besuch bei der Mutter im Hamlet. Conolan am Altar des Aufidius sind Beispiele. Zuweilen scheint von diesem Momente ab das Interesse des Dichters an den Charakteren geringer zu werden, man begegnet noch einzelnen großen Schönheiten, aber sie sind Episoden wie im Cäsar. Allerdings liegt der Hauptgrund der schwächeren Wirkung seiner vierten Acte — der Umkehr — nicht vorzugsweise in den Charakteren, sondern im Bau seiner Handlungen, aber zuweilen leiden auch die Personen selbst unter der Zerstücke¬ lung. So Macbeth, vor allem Lear, dessen zweites Auftreten im Wahnsinn wie eine Wiederholung mehr peinlich als wirksam ist. selbst Hamlet, in wel¬ chem die Kirchhofscene — wie berühmt ihre Reflexionen auch sind — und der Schluß durchaus gegen die Spannung der ersten Hälfte abfallen. Beim Coriolan freilich liegen die beiden schönsten Scenen in der zweiten Hälfte des Stückes, ebenso im Othello die gewaltigsten; das letztere Stück hat aber an¬ dere technische Besonderheiten. Wenn Shakespeares Art zu charakterisiren schon für die Schauspieler seinerZeit Zuweilen dunkel und schwer war, so ist natürlich, daß wir seine Eigenthüm¬ lichkeiten sehr lebhaft empfinden. Denn kein größerer'Gegensatz ist denkbar, als die Behandlung der Charaktere bei ihm und bei den tragischen Dichtern der Deutschen: Lessing. Goethe. Schiller. Wie wir bei Shakespeare durch die Verschlossenheit mancher Nebencharaktere daran erinnert werden, daß er der Mischen Zeit des Mittelalters noch nahe stand, so haben unsere dramatischen Charaktere bis zum Ueberfluß die Eigenschaften einer lyrischen Bildungsperiode, °>ne fortlaufende, breite und behagliche Darstellung innerer Zustände, über Welche die Individuen mit einer zuweilen unheimlichen Selbstbeobachtung reflectiren, dazu Sentenzen, welche den jedesmaligen Standpunkt des Cha¬ rters zu der sittlichen Ordnung zweifellos deutlich machen. Bei den Deut- schen ist nichts Dunkles, und wenig Gewaltsames. Kleist ausgenommen. Von den großen Dichtern der Deutschen hat Lessing am besten verstan¬ dn, seine Charaktere in dem Wellenschlage heftiger dramatischer Bewegung darzustellen. Unter den Kunstgenossen wird die poetische Kraft des Ein¬ zelnen zumeist nach seinen Charakteren geschützt/ weil bei ihnen die Natur des Dichters am meisten thut, die Kunst nur wenig. Und gerade im Cha¬ rakterisiren ist Lessing groß und bewundernswerth; der Reichthum an De¬ tail, die Wirkung schlagender Lebensüußerungen, welche sowol durch Schön-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/153>, abgerufen am 05.02.2025.