Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.schritt menschlicher Bildung selbst an unbedeutenden Talenten zuweilen in über¬ Im Folgenden soll die Rede sein von den Charakteren des Dramas, DaS Charakterifiren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des Auf dieser Thatsache beruht die Wirkung des dramatischen Chciraktensirens. schritt menschlicher Bildung selbst an unbedeutenden Talenten zuweilen in über¬ Im Folgenden soll die Rede sein von den Charakteren des Dramas, DaS Charakterifiren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des Auf dieser Thatsache beruht die Wirkung des dramatischen Chciraktensirens. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0148" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111580"/> <p xml:id="ID_460" prev="#ID_459"> schritt menschlicher Bildung selbst an unbedeutenden Talenten zuweilen in über¬<lb/> raschender Weise ausprägt.</p><lb/> <p xml:id="ID_461"> Im Folgenden soll die Rede sein von den Charakteren des Dramas,<lb/> von der Handlung und ihrer Gliederung, von den Situationen, der Sprache<lb/> und dem Costüm, von dem „Aptiren" eines Stückes, zuletzt von unserm Gebiet<lb/> dramatischer Stoffe. Es wird hier besonders auf das Drama höheren Styls<lb/> Rücksicht genommen, die Modificationen der technischen Regeln, welche das<lb/> Lustspiel für sich in Anspruch nimmt, seien nur gelegentlich erwähnt.</p><lb/> <p xml:id="ID_462"> DaS Charakterifiren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des<lb/> Menschen, jedes Lebendige als geschlossene Persönlichkeit zu empfinden, in wel¬<lb/> cher eine Seele, gleich der des Beobachters, als Grundlage vorausgesetzt, und da¬<lb/> rüber das Besondere. Individuelle der fremden Existenz als besonders interessant<lb/> genossen wird. In diesem Drange bildet der Mensch, lange bevor ihm sein<lb/> poetisches Schaffen zu einer gelehrten Kunst wird, Alles, was ihn umgibt,<lb/> in Persönlichkeiten um, denen er mit geschäftiger Phantasie eine Fülle des<lb/> eignen menschlichen Wesens verleiht. Aus Donner und Blitz wird ihm eine<lb/> Göttergestalt, welche auf dem Streitwagen über den hohlen Himmelsboden<lb/> daher fährt, den feurigen Speer schleudernd; die Wolken wandeln sich in Him¬<lb/> melskühe und Schafe, aus welchen eine göttliche Gestalt die Himmelsmilch —<lb/> den Regen — auf die Erde schüttet. Auch die Geschöpfe, welche neben<lb/> dem Menschen die Erde bewohnen, empfindet er als menschenähnliche Persön¬<lb/> lichkeiten, so den Bär, Wolf, Fuchs; ebenso substituirt noch jeder von uns<lb/> dem Hund, der Katze Reflexionen und Empfindungen, welche uns geläufig<lb/> sind, und nur weil uns solches Auffasse» des Fremdartigen durchaus Bedürf¬<lb/> niß und Vergnügen ist, werden uns die Thiere so heimisch. Unablässig äußert<lb/> sich derselbe Personen bildende Trieb. Auch im Verkehr mit Menschen, alltäg¬<lb/> lich, bei jeder ersten Bekanntschaft eines Fremden, formen wir aus den wenigen<lb/> Lebensäußerungen, die uns von ihm zugehen, aus einzelnen Worten, dem<lb/> Ton seiner Stimme, dem Ausdruck seines Gesichtes augenblicklich das Bild<lb/> einer geschlossenen Persönlichkeit, zunächst dadurch, das wir die unvollständigen<lb/> Eindrücke blitzschnell aus der Phantasie nach Analogie von früher Beobachtetem<lb/> ergänzen. Spätere Beobachtungen derselben Person mögen das Bild, welches<lb/> uns in die Seele gefallen ist, umformen, reicher und tiefer ausbilden, Schar<lb/> bei dem ersten Eindruck, wie gering die Zahl der charakteristischen Züge sei,<lb/> empfinden wir sie als ein consequentes, geschlossenes Ganze, indem wir das<lb/> Eigenthümliche auf der Grundlage des gemeinsamen Menschlichen erkennen.<lb/> Dieses Individualisiren ist allen Menschen, allen Zeiten gemein, es wirkt in<lb/> jedem^von uns mit der Nothwendigkeit und Schnelle einer ureigenen Kraft, es<lb/> ist jedem eine stärkere oder schwächere Fähigkeit, jedem ein reizvolles Bedürfniß.</p><lb/> <p xml:id="ID_463" next="#ID_464"> Auf dieser Thatsache beruht die Wirkung des dramatischen Chciraktensirens.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0148]
schritt menschlicher Bildung selbst an unbedeutenden Talenten zuweilen in über¬
raschender Weise ausprägt.
Im Folgenden soll die Rede sein von den Charakteren des Dramas,
von der Handlung und ihrer Gliederung, von den Situationen, der Sprache
und dem Costüm, von dem „Aptiren" eines Stückes, zuletzt von unserm Gebiet
dramatischer Stoffe. Es wird hier besonders auf das Drama höheren Styls
Rücksicht genommen, die Modificationen der technischen Regeln, welche das
Lustspiel für sich in Anspruch nimmt, seien nur gelegentlich erwähnt.
DaS Charakterifiren des Dichters beruht auf der alten Eigenschaft des
Menschen, jedes Lebendige als geschlossene Persönlichkeit zu empfinden, in wel¬
cher eine Seele, gleich der des Beobachters, als Grundlage vorausgesetzt, und da¬
rüber das Besondere. Individuelle der fremden Existenz als besonders interessant
genossen wird. In diesem Drange bildet der Mensch, lange bevor ihm sein
poetisches Schaffen zu einer gelehrten Kunst wird, Alles, was ihn umgibt,
in Persönlichkeiten um, denen er mit geschäftiger Phantasie eine Fülle des
eignen menschlichen Wesens verleiht. Aus Donner und Blitz wird ihm eine
Göttergestalt, welche auf dem Streitwagen über den hohlen Himmelsboden
daher fährt, den feurigen Speer schleudernd; die Wolken wandeln sich in Him¬
melskühe und Schafe, aus welchen eine göttliche Gestalt die Himmelsmilch —
den Regen — auf die Erde schüttet. Auch die Geschöpfe, welche neben
dem Menschen die Erde bewohnen, empfindet er als menschenähnliche Persön¬
lichkeiten, so den Bär, Wolf, Fuchs; ebenso substituirt noch jeder von uns
dem Hund, der Katze Reflexionen und Empfindungen, welche uns geläufig
sind, und nur weil uns solches Auffasse» des Fremdartigen durchaus Bedürf¬
niß und Vergnügen ist, werden uns die Thiere so heimisch. Unablässig äußert
sich derselbe Personen bildende Trieb. Auch im Verkehr mit Menschen, alltäg¬
lich, bei jeder ersten Bekanntschaft eines Fremden, formen wir aus den wenigen
Lebensäußerungen, die uns von ihm zugehen, aus einzelnen Worten, dem
Ton seiner Stimme, dem Ausdruck seines Gesichtes augenblicklich das Bild
einer geschlossenen Persönlichkeit, zunächst dadurch, das wir die unvollständigen
Eindrücke blitzschnell aus der Phantasie nach Analogie von früher Beobachtetem
ergänzen. Spätere Beobachtungen derselben Person mögen das Bild, welches
uns in die Seele gefallen ist, umformen, reicher und tiefer ausbilden, Schar
bei dem ersten Eindruck, wie gering die Zahl der charakteristischen Züge sei,
empfinden wir sie als ein consequentes, geschlossenes Ganze, indem wir das
Eigenthümliche auf der Grundlage des gemeinsamen Menschlichen erkennen.
Dieses Individualisiren ist allen Menschen, allen Zeiten gemein, es wirkt in
jedem^von uns mit der Nothwendigkeit und Schnelle einer ureigenen Kraft, es
ist jedem eine stärkere oder schwächere Fähigkeit, jedem ein reizvolles Bedürfniß.
Auf dieser Thatsache beruht die Wirkung des dramatischen Chciraktensirens.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |