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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Kriegswisscnschast bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen Frankreich und
Italien; dieselbe Regeln bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen England.
Preußen und Oestreich. So zerfällt nach wissenschastlichen Gesetzen Europa in zwei
Heerlager, deren Gleichgewicht dadurch bedingt ist, daß Venetien bei Oestreich bleibt.
Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist um so nothwendiger, da sür die Zukunft das
französisch-italienische Bündniß nach den Gesetzen der Kriegswisscnschast noch durch
Nußland verstärkt werden wird; welches Reich sich im gegenwärtigen Augenblick mi¬
litärisch noch nicht geltend machen kann, für die Zukunft aber den Frieden Europas
im soeben Grade bedroht.

Aehnliche Argumente sind den Militärschriststcllcrn sehr geläufig, und es wird
dem Laien schwer, ihnen vom Standpunkt der Kriegswisscnschast etwas zu entgegnen.
Aber bei einiger Aufmerksamkeit muß es einem Jeden einleuchten, daß der kricgs-
wissenschastlichc Standpunkt überhaupt, wenn er für die Politik Gesetze geben will,
eine Chimäre ist. Schon für den gegenwärtigen Fall, macht es einen sonderbarem
Eindruck, daß gerade der Besitz des Fcstungsvicrccks in den Händen OchrcichS das
Gleichgewicht und den Frieden Europas garantiren soll, während Oestreich doch ge¬
nöthigt ist, zu diesem Zweck eine allgemeine Koalition d. h. einen allgemeinen Krieg
ZU veranlassen.

Wir haben vom europäischen Gleichgewicht einen ganz andern Begriff. Aller¬
dings werden die Offiziere der verschiedenen Armeen schon um 'des Avancements
willen, meistens den Krieg wünschen; aber bis jetzt sind die Armeen doch noch nicht
die Souveräne des Staats. Die Fürsten, d. h. die Kriegsherrn werden dem Wunsch
der Armeen nur dann nachgeben, wenn sie das Volk für sich haben, und wenn steh
ihnen eine leichte und im ganzen sichere Beute darbietet. Das europäische Gleich¬
gewicht wird nicht durch diese oder jene strategische Linie gestört, sondern durch die
Existenz unfertiger Staatenbildungen, welche die Unzufriedenheit der eigenen Bürger
und den Eroberungstrieb der Nachbarn erregen. Das europäische Gleichgewicht
wurde bis jetzt durch drei Fragen gestört: die italienische, die deutsch-östrcichsche und
die orientalische: die erste ist im Begriff gelöst zu werden; gelingt c" auch die zweite
ohne eine innere große Krisis zu schlichten, so bietet die dritte keine Schwierigkeiten
wehr. Denn denken wir uns das gegenwärtige Gebiet des deutschen Bundes staat¬
lich in der Weise geeinigt, daß der Feind nie auf ein Svnderbündniß zu rechnen
hat, daß die militärischen Strcitkrüftc Deutschlands nach einem zusammenhängenden
Plan geleitet werden und daß die Regierungen und die Unterthanen zu einem wirk¬
lichen Ganzen verwachsen sind, so haben wir keine strategischen Linien nöthig, uns
-ZU schützen; denn es würde keinem Menschen einfallen uns anzugreifen.

Die bloße Aufrechthaltung des gegenwärtigen Zustandes genügt nicht. Die
Aufgabe, auf 'die alles ankommt, ist, Preußen und Oestreich gegen einander in eine
solche Lage zu versetzen, daß sie aufrichtig und ehrlich mit einander Hand in Hand
gehn können. Vielleicht erinnert man sich in Constantinopel nicht mehr der Details
des vorigen Jahres.' Als Fürst Windischgrätz in Berlin war. wußte er, daß der


Kriegswisscnschast bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen Frankreich und
Italien; dieselbe Regeln bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen England.
Preußen und Oestreich. So zerfällt nach wissenschastlichen Gesetzen Europa in zwei
Heerlager, deren Gleichgewicht dadurch bedingt ist, daß Venetien bei Oestreich bleibt.
Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist um so nothwendiger, da sür die Zukunft das
französisch-italienische Bündniß nach den Gesetzen der Kriegswisscnschast noch durch
Nußland verstärkt werden wird; welches Reich sich im gegenwärtigen Augenblick mi¬
litärisch noch nicht geltend machen kann, für die Zukunft aber den Frieden Europas
im soeben Grade bedroht.

Aehnliche Argumente sind den Militärschriststcllcrn sehr geläufig, und es wird
dem Laien schwer, ihnen vom Standpunkt der Kriegswisscnschast etwas zu entgegnen.
Aber bei einiger Aufmerksamkeit muß es einem Jeden einleuchten, daß der kricgs-
wissenschastlichc Standpunkt überhaupt, wenn er für die Politik Gesetze geben will,
eine Chimäre ist. Schon für den gegenwärtigen Fall, macht es einen sonderbarem
Eindruck, daß gerade der Besitz des Fcstungsvicrccks in den Händen OchrcichS das
Gleichgewicht und den Frieden Europas garantiren soll, während Oestreich doch ge¬
nöthigt ist, zu diesem Zweck eine allgemeine Koalition d. h. einen allgemeinen Krieg
ZU veranlassen.

Wir haben vom europäischen Gleichgewicht einen ganz andern Begriff. Aller¬
dings werden die Offiziere der verschiedenen Armeen schon um 'des Avancements
willen, meistens den Krieg wünschen; aber bis jetzt sind die Armeen doch noch nicht
die Souveräne des Staats. Die Fürsten, d. h. die Kriegsherrn werden dem Wunsch
der Armeen nur dann nachgeben, wenn sie das Volk für sich haben, und wenn steh
ihnen eine leichte und im ganzen sichere Beute darbietet. Das europäische Gleich¬
gewicht wird nicht durch diese oder jene strategische Linie gestört, sondern durch die
Existenz unfertiger Staatenbildungen, welche die Unzufriedenheit der eigenen Bürger
und den Eroberungstrieb der Nachbarn erregen. Das europäische Gleichgewicht
wurde bis jetzt durch drei Fragen gestört: die italienische, die deutsch-östrcichsche und
die orientalische: die erste ist im Begriff gelöst zu werden; gelingt c« auch die zweite
ohne eine innere große Krisis zu schlichten, so bietet die dritte keine Schwierigkeiten
wehr. Denn denken wir uns das gegenwärtige Gebiet des deutschen Bundes staat¬
lich in der Weise geeinigt, daß der Feind nie auf ein Svnderbündniß zu rechnen
hat, daß die militärischen Strcitkrüftc Deutschlands nach einem zusammenhängenden
Plan geleitet werden und daß die Regierungen und die Unterthanen zu einem wirk¬
lichen Ganzen verwachsen sind, so haben wir keine strategischen Linien nöthig, uns
-ZU schützen; denn es würde keinem Menschen einfallen uns anzugreifen.

Die bloße Aufrechthaltung des gegenwärtigen Zustandes genügt nicht. Die
Aufgabe, auf 'die alles ankommt, ist, Preußen und Oestreich gegen einander in eine
solche Lage zu versetzen, daß sie aufrichtig und ehrlich mit einander Hand in Hand
gehn können. Vielleicht erinnert man sich in Constantinopel nicht mehr der Details
des vorigen Jahres.' Als Fürst Windischgrätz in Berlin war. wußte er, daß der


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[0089] Kriegswisscnschast bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen Frankreich und Italien; dieselbe Regeln bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen England. Preußen und Oestreich. So zerfällt nach wissenschastlichen Gesetzen Europa in zwei Heerlager, deren Gleichgewicht dadurch bedingt ist, daß Venetien bei Oestreich bleibt. Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist um so nothwendiger, da sür die Zukunft das französisch-italienische Bündniß nach den Gesetzen der Kriegswisscnschast noch durch Nußland verstärkt werden wird; welches Reich sich im gegenwärtigen Augenblick mi¬ litärisch noch nicht geltend machen kann, für die Zukunft aber den Frieden Europas im soeben Grade bedroht. Aehnliche Argumente sind den Militärschriststcllcrn sehr geläufig, und es wird dem Laien schwer, ihnen vom Standpunkt der Kriegswisscnschast etwas zu entgegnen. Aber bei einiger Aufmerksamkeit muß es einem Jeden einleuchten, daß der kricgs- wissenschastlichc Standpunkt überhaupt, wenn er für die Politik Gesetze geben will, eine Chimäre ist. Schon für den gegenwärtigen Fall, macht es einen sonderbarem Eindruck, daß gerade der Besitz des Fcstungsvicrccks in den Händen OchrcichS das Gleichgewicht und den Frieden Europas garantiren soll, während Oestreich doch ge¬ nöthigt ist, zu diesem Zweck eine allgemeine Koalition d. h. einen allgemeinen Krieg ZU veranlassen. Wir haben vom europäischen Gleichgewicht einen ganz andern Begriff. Aller¬ dings werden die Offiziere der verschiedenen Armeen schon um 'des Avancements willen, meistens den Krieg wünschen; aber bis jetzt sind die Armeen doch noch nicht die Souveräne des Staats. Die Fürsten, d. h. die Kriegsherrn werden dem Wunsch der Armeen nur dann nachgeben, wenn sie das Volk für sich haben, und wenn steh ihnen eine leichte und im ganzen sichere Beute darbietet. Das europäische Gleich¬ gewicht wird nicht durch diese oder jene strategische Linie gestört, sondern durch die Existenz unfertiger Staatenbildungen, welche die Unzufriedenheit der eigenen Bürger und den Eroberungstrieb der Nachbarn erregen. Das europäische Gleichgewicht wurde bis jetzt durch drei Fragen gestört: die italienische, die deutsch-östrcichsche und die orientalische: die erste ist im Begriff gelöst zu werden; gelingt c« auch die zweite ohne eine innere große Krisis zu schlichten, so bietet die dritte keine Schwierigkeiten wehr. Denn denken wir uns das gegenwärtige Gebiet des deutschen Bundes staat¬ lich in der Weise geeinigt, daß der Feind nie auf ein Svnderbündniß zu rechnen hat, daß die militärischen Strcitkrüftc Deutschlands nach einem zusammenhängenden Plan geleitet werden und daß die Regierungen und die Unterthanen zu einem wirk¬ lichen Ganzen verwachsen sind, so haben wir keine strategischen Linien nöthig, uns -ZU schützen; denn es würde keinem Menschen einfallen uns anzugreifen. Die bloße Aufrechthaltung des gegenwärtigen Zustandes genügt nicht. Die Aufgabe, auf 'die alles ankommt, ist, Preußen und Oestreich gegen einander in eine solche Lage zu versetzen, daß sie aufrichtig und ehrlich mit einander Hand in Hand gehn können. Vielleicht erinnert man sich in Constantinopel nicht mehr der Details des vorigen Jahres.' Als Fürst Windischgrätz in Berlin war. wußte er, daß der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/89>, abgerufen am 28.08.2024.