Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Trotz, oder in Folge, der östreichischen Siege und Uebergewalt wuchs die
nationale Bewegung in Italien. Der orientalische Krieg isolirte Oestreich;
ein Anschluß an den Westen hätte seine italienische Position retten können.
Allein es blieb in seiner schroffen Zurückhaltung. Der vorjährige Krieg er¬
folgte, beraubte es der Lombardei und vernichtete seine italienischen Alliir-
ten. Dem Frieden folgte nicht die Ausführung, die mittclitalienischen Für¬
sten wurde nicht restaurirt, der Papst verlor den größten Theil seines Landes
und der König von Neapel seinen Thron.

Italien ist in einem chaotischen Zustande, und die europäischen Interessen
sind dort dem Zufall Preis gegeben. Es ist Europas Aufgabe bei der Her¬
stellung der Ordnung darauf zu sehen, daß das Gleichgewicht nicht zu Gun¬
sten irgend einer dritten Macht gestört werde.

Obgleich im Einzelnen sich gegen die Auffassung des russischen Staats¬
mannes Einwendungen machen lassen, ist die historische Entwicklung bis
hierher im Ganzen klar und sachgemäß und ihr Resultat die Verdammung
des östreichischen Systems in Italien.

Minder glücklich scheint uns dagegen der Versuch, eine Lösung der gegen¬
wärtigen Verwicklungen anzugeben.

Der Verfasser läßt dahingestellt, ob eine Konföderation im Sinn des
Friedens von Villafranca oder eine solche zu dreien -- Sardinien, Papst und
Neapel -- noch möglich sei. Aber selbst für den Fall, daß sie möglich gewesen
wäre, oder noch wäre, fordert er sür ihre Existenz und besonders für ihre Neu¬
tralität die Garantie Europas. Die Stellung dieser Bedingung halten wir
aber für das Bekenntniß, daß jene Art der Lösung falsch wäre.

Die Neutralität eines großen Staatskörpers ist seine Neutralisation; man
hat aber nicht die Mittel, einer zahlreichen gebildeten Nation ihre Action auf
die allgemeine Politik zu entziehn, noch kann diese den Willen haben, sich in
Passivität zu fügen. Es ist zu bezweifeln, ob die für kleinere Staaten vom
europäischen Areopag decretiren Neutralität in einer sie näher angehenden
Krise die Probe bestehen wird, und ob die Aufstellung dieser Theorie über¬
all praktischen Werth hat. Findet man für große Staatsverhältnisse keine
andere Bedingung ihrer innern und äußern Entwicklung und Sicherheit, so
muß ihre Constituirung eben falsch sein, weil dem betreffenden' Staate oder
Staatencomplex von vornherein der Charakter der Selbstbestimmung genommen
wird. '

Glaubt man aber wirklich, daß es möglich sei, einen großen Staat
neutral zu machen, so erkläre mau doch lieber gleich ganz Europa sür neu¬
tral. Zu welchen Widersprüchen und Absurdititäten würde aber nicht selbst
dieser ewige Frieden, dies Erstarren des Unfertigen und Mangelhaften führen?
Denn leider, bei dem jetzigen Zustande der Dinge ist der Krieg (oder die


Trotz, oder in Folge, der östreichischen Siege und Uebergewalt wuchs die
nationale Bewegung in Italien. Der orientalische Krieg isolirte Oestreich;
ein Anschluß an den Westen hätte seine italienische Position retten können.
Allein es blieb in seiner schroffen Zurückhaltung. Der vorjährige Krieg er¬
folgte, beraubte es der Lombardei und vernichtete seine italienischen Alliir-
ten. Dem Frieden folgte nicht die Ausführung, die mittclitalienischen Für¬
sten wurde nicht restaurirt, der Papst verlor den größten Theil seines Landes
und der König von Neapel seinen Thron.

Italien ist in einem chaotischen Zustande, und die europäischen Interessen
sind dort dem Zufall Preis gegeben. Es ist Europas Aufgabe bei der Her¬
stellung der Ordnung darauf zu sehen, daß das Gleichgewicht nicht zu Gun¬
sten irgend einer dritten Macht gestört werde.

Obgleich im Einzelnen sich gegen die Auffassung des russischen Staats¬
mannes Einwendungen machen lassen, ist die historische Entwicklung bis
hierher im Ganzen klar und sachgemäß und ihr Resultat die Verdammung
des östreichischen Systems in Italien.

Minder glücklich scheint uns dagegen der Versuch, eine Lösung der gegen¬
wärtigen Verwicklungen anzugeben.

Der Verfasser läßt dahingestellt, ob eine Konföderation im Sinn des
Friedens von Villafranca oder eine solche zu dreien — Sardinien, Papst und
Neapel — noch möglich sei. Aber selbst für den Fall, daß sie möglich gewesen
wäre, oder noch wäre, fordert er sür ihre Existenz und besonders für ihre Neu¬
tralität die Garantie Europas. Die Stellung dieser Bedingung halten wir
aber für das Bekenntniß, daß jene Art der Lösung falsch wäre.

Die Neutralität eines großen Staatskörpers ist seine Neutralisation; man
hat aber nicht die Mittel, einer zahlreichen gebildeten Nation ihre Action auf
die allgemeine Politik zu entziehn, noch kann diese den Willen haben, sich in
Passivität zu fügen. Es ist zu bezweifeln, ob die für kleinere Staaten vom
europäischen Areopag decretiren Neutralität in einer sie näher angehenden
Krise die Probe bestehen wird, und ob die Aufstellung dieser Theorie über¬
all praktischen Werth hat. Findet man für große Staatsverhältnisse keine
andere Bedingung ihrer innern und äußern Entwicklung und Sicherheit, so
muß ihre Constituirung eben falsch sein, weil dem betreffenden' Staate oder
Staatencomplex von vornherein der Charakter der Selbstbestimmung genommen
wird. '

Glaubt man aber wirklich, daß es möglich sei, einen großen Staat
neutral zu machen, so erkläre mau doch lieber gleich ganz Europa sür neu¬
tral. Zu welchen Widersprüchen und Absurdititäten würde aber nicht selbst
dieser ewige Frieden, dies Erstarren des Unfertigen und Mangelhaften führen?
Denn leider, bei dem jetzigen Zustande der Dinge ist der Krieg (oder die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110946"/>
          <p xml:id="ID_107"> Trotz, oder in Folge, der östreichischen Siege und Uebergewalt wuchs die<lb/>
nationale Bewegung in Italien. Der orientalische Krieg isolirte Oestreich;<lb/>
ein Anschluß an den Westen hätte seine italienische Position retten können.<lb/>
Allein es blieb in seiner schroffen Zurückhaltung. Der vorjährige Krieg er¬<lb/>
folgte, beraubte es der Lombardei und vernichtete seine italienischen Alliir-<lb/>
ten. Dem Frieden folgte nicht die Ausführung, die mittclitalienischen Für¬<lb/>
sten wurde nicht restaurirt, der Papst verlor den größten Theil seines Landes<lb/>
und der König von Neapel seinen Thron.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_108"> Italien ist in einem chaotischen Zustande, und die europäischen Interessen<lb/>
sind dort dem Zufall Preis gegeben. Es ist Europas Aufgabe bei der Her¬<lb/>
stellung der Ordnung darauf zu sehen, daß das Gleichgewicht nicht zu Gun¬<lb/>
sten irgend einer dritten Macht gestört werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_109"> Obgleich im Einzelnen sich gegen die Auffassung des russischen Staats¬<lb/>
mannes Einwendungen machen lassen, ist die historische Entwicklung bis<lb/>
hierher im Ganzen klar und sachgemäß und ihr Resultat die Verdammung<lb/>
des östreichischen Systems in Italien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_110"> Minder glücklich scheint uns dagegen der Versuch, eine Lösung der gegen¬<lb/>
wärtigen Verwicklungen anzugeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_111"> Der Verfasser läßt dahingestellt, ob eine Konföderation im Sinn des<lb/>
Friedens von Villafranca oder eine solche zu dreien &#x2014; Sardinien, Papst und<lb/>
Neapel &#x2014; noch möglich sei. Aber selbst für den Fall, daß sie möglich gewesen<lb/>
wäre, oder noch wäre, fordert er sür ihre Existenz und besonders für ihre Neu¬<lb/>
tralität die Garantie Europas. Die Stellung dieser Bedingung halten wir<lb/>
aber für das Bekenntniß, daß jene Art der Lösung falsch wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_112"> Die Neutralität eines großen Staatskörpers ist seine Neutralisation; man<lb/>
hat aber nicht die Mittel, einer zahlreichen gebildeten Nation ihre Action auf<lb/>
die allgemeine Politik zu entziehn, noch kann diese den Willen haben, sich in<lb/>
Passivität zu fügen. Es ist zu bezweifeln, ob die für kleinere Staaten vom<lb/>
europäischen Areopag decretiren Neutralität in einer sie näher angehenden<lb/>
Krise die Probe bestehen wird, und ob die Aufstellung dieser Theorie über¬<lb/>
all praktischen Werth hat. Findet man für große Staatsverhältnisse keine<lb/>
andere Bedingung ihrer innern und äußern Entwicklung und Sicherheit, so<lb/>
muß ihre Constituirung eben falsch sein, weil dem betreffenden' Staate oder<lb/>
Staatencomplex von vornherein der Charakter der Selbstbestimmung genommen<lb/>
wird. '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_113" next="#ID_114"> Glaubt man aber wirklich, daß es möglich sei, einen großen Staat<lb/>
neutral zu machen, so erkläre mau doch lieber gleich ganz Europa sür neu¬<lb/>
tral. Zu welchen Widersprüchen und Absurdititäten würde aber nicht selbst<lb/>
dieser ewige Frieden, dies Erstarren des Unfertigen und Mangelhaften führen?<lb/>
Denn leider, bei dem jetzigen Zustande der Dinge ist der Krieg (oder die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] Trotz, oder in Folge, der östreichischen Siege und Uebergewalt wuchs die nationale Bewegung in Italien. Der orientalische Krieg isolirte Oestreich; ein Anschluß an den Westen hätte seine italienische Position retten können. Allein es blieb in seiner schroffen Zurückhaltung. Der vorjährige Krieg er¬ folgte, beraubte es der Lombardei und vernichtete seine italienischen Alliir- ten. Dem Frieden folgte nicht die Ausführung, die mittclitalienischen Für¬ sten wurde nicht restaurirt, der Papst verlor den größten Theil seines Landes und der König von Neapel seinen Thron. Italien ist in einem chaotischen Zustande, und die europäischen Interessen sind dort dem Zufall Preis gegeben. Es ist Europas Aufgabe bei der Her¬ stellung der Ordnung darauf zu sehen, daß das Gleichgewicht nicht zu Gun¬ sten irgend einer dritten Macht gestört werde. Obgleich im Einzelnen sich gegen die Auffassung des russischen Staats¬ mannes Einwendungen machen lassen, ist die historische Entwicklung bis hierher im Ganzen klar und sachgemäß und ihr Resultat die Verdammung des östreichischen Systems in Italien. Minder glücklich scheint uns dagegen der Versuch, eine Lösung der gegen¬ wärtigen Verwicklungen anzugeben. Der Verfasser läßt dahingestellt, ob eine Konföderation im Sinn des Friedens von Villafranca oder eine solche zu dreien — Sardinien, Papst und Neapel — noch möglich sei. Aber selbst für den Fall, daß sie möglich gewesen wäre, oder noch wäre, fordert er sür ihre Existenz und besonders für ihre Neu¬ tralität die Garantie Europas. Die Stellung dieser Bedingung halten wir aber für das Bekenntniß, daß jene Art der Lösung falsch wäre. Die Neutralität eines großen Staatskörpers ist seine Neutralisation; man hat aber nicht die Mittel, einer zahlreichen gebildeten Nation ihre Action auf die allgemeine Politik zu entziehn, noch kann diese den Willen haben, sich in Passivität zu fügen. Es ist zu bezweifeln, ob die für kleinere Staaten vom europäischen Areopag decretiren Neutralität in einer sie näher angehenden Krise die Probe bestehen wird, und ob die Aufstellung dieser Theorie über¬ all praktischen Werth hat. Findet man für große Staatsverhältnisse keine andere Bedingung ihrer innern und äußern Entwicklung und Sicherheit, so muß ihre Constituirung eben falsch sein, weil dem betreffenden' Staate oder Staatencomplex von vornherein der Charakter der Selbstbestimmung genommen wird. ' Glaubt man aber wirklich, daß es möglich sei, einen großen Staat neutral zu machen, so erkläre mau doch lieber gleich ganz Europa sür neu¬ tral. Zu welchen Widersprüchen und Absurdititäten würde aber nicht selbst dieser ewige Frieden, dies Erstarren des Unfertigen und Mangelhaften führen? Denn leider, bei dem jetzigen Zustande der Dinge ist der Krieg (oder die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/52>, abgerufen am 22.07.2024.