Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.Chrysander vergleicht ferner Handels Opern mit einer Gruppe von Chrysander vergleicht ferner Handels Opern mit einer Gruppe von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111405"/> <p xml:id="ID_1706" next="#ID_1707"> Chrysander vergleicht ferner Handels Opern mit einer Gruppe von<lb/> Shakespeares Lustspielen. Beide passen gleich wenig in die dramatische oder<lb/> dramatisch-musikalische Theorie, da sie abseits des Weges stehen, auf dem die<lb/> betreffenden Gattungen am breitesten sich entwickelt habe». Shakespeare zieht<lb/> sich aus dem realistischen Gebiet zurück ins phantastische, wie Händel aus dem<lb/> allgemein dramatischen ins subjectiv innerliche. Beide .gestalten im Lustspiel<lb/> und in der Oper nicht die aus dem tagtüglichen Lauf sich ergebenden Lebens¬<lb/> verhältnisse, sondern ergehen sich mit Behagen auf phantastischem Boden.<lb/> Beide haben hier romanische, namentlich italienische Ideale in einer Weise<lb/> nachgebildet, daß der warme Hauch südlicher Kunst uns daraus umwebt, aber<lb/> ebensowol der große nordische Athem fehlt: und wie sie also auf diesen Ge¬<lb/> bieten nicht mit der vollvereinten Kraft ihrer Natur arbeiteten, so hat auch<lb/> keiner von ihnen zu bewirken vermocht, daß die fernere Entwickelung dieser<lb/> Kunstzweige den von ihnen betretenen Weg einhielt. Frankreich gab bald<lb/> nach Shakespeare dem Lustspiel wie auch der Oper einen neuen Anstoß, wel¬<lb/> cher am stärksten auf England und Deutschland zurückwirkte; die Gesichtspunkte<lb/> für das Verständniß Händsls und Shakespeares wurden dadurch verrückt, und<lb/> beide geriethen >n Vergessenheit., Shakespeare ist seitdem wieder zu seinem<lb/> Recht gelangt, Händel wird es auch zu Theil werden. Endlich folgte bei<lb/> Shakespeare auf das Lustspiel die Tragödie, bei Händel auf die Oper das Ora¬<lb/> torium, bei beiden das ernstere Werk auf das kleinere und fremdländisch ange¬<lb/> legte. Das Vergnügen an der Formbildung muß es verursachen, daß große<lb/> Künstler in mittleren Gebieten über einen gewissen Formalismus nicht hinaus¬<lb/> kommen, nämlich in solchen, welche ungeeignet sind zur vollen Aufnahme des tie¬<lb/> feren Gehaltes, der in diesen Künstlern zur Gestaltung drängt. Shakespeare<lb/> führt mit unerschöpflichen Hilfsmitteln sein Lustspiel auf phantastischem<lb/> Grunde aus, welches Andere nach ihm einfacher und leichter auf natürlichen<lb/> Boden verlegten; daß jener unendlich mehr künstlerische Phantasie voraussetzt,<lb/> versteht sich von selbst. Händel hält in seiner Oper vielfach die Formen ein,<lb/> deren Durchbrechung Andere nach ihm berühmt gemacht hat, und ergeht sich<lb/> in der Schilderung allgemeiner und wenig individuell gefärbter Gemütszustande<lb/> und Charaktere mit einem Luxus von Kunstgedauken. welcher vielen seiner<lb/> Nachfolger nicht entfernt zu Gebote stand. Das Behagen, welches uns<lb/> Shakespeares Lustspiele wie Handels Opern einflößen, ist kein bloß sachliches,<lb/> sondern zum guten Theil ein formell künstlerisches, und auch da bewundern<lb/> wir den Dichter und Musiker, wo uns die Sache selbst weniger anzkht. Lust¬<lb/> spiel und Oper waren wegen der ans sich selt'-se gestellten, völlige eigene Leben¬<lb/> digkeit erstrebenden Haltung die besten Mittel, die Künstler im Schaffen sicher<lb/> zu machen. Sie waren der Tummelplatz, ans denn diese sich für das. Höhere<lb/> und Ernstere stabilen. Dasselbe Genie, welches auf dem Durchgänge durch</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0511]
Chrysander vergleicht ferner Handels Opern mit einer Gruppe von
Shakespeares Lustspielen. Beide passen gleich wenig in die dramatische oder
dramatisch-musikalische Theorie, da sie abseits des Weges stehen, auf dem die
betreffenden Gattungen am breitesten sich entwickelt habe». Shakespeare zieht
sich aus dem realistischen Gebiet zurück ins phantastische, wie Händel aus dem
allgemein dramatischen ins subjectiv innerliche. Beide .gestalten im Lustspiel
und in der Oper nicht die aus dem tagtüglichen Lauf sich ergebenden Lebens¬
verhältnisse, sondern ergehen sich mit Behagen auf phantastischem Boden.
Beide haben hier romanische, namentlich italienische Ideale in einer Weise
nachgebildet, daß der warme Hauch südlicher Kunst uns daraus umwebt, aber
ebensowol der große nordische Athem fehlt: und wie sie also auf diesen Ge¬
bieten nicht mit der vollvereinten Kraft ihrer Natur arbeiteten, so hat auch
keiner von ihnen zu bewirken vermocht, daß die fernere Entwickelung dieser
Kunstzweige den von ihnen betretenen Weg einhielt. Frankreich gab bald
nach Shakespeare dem Lustspiel wie auch der Oper einen neuen Anstoß, wel¬
cher am stärksten auf England und Deutschland zurückwirkte; die Gesichtspunkte
für das Verständniß Händsls und Shakespeares wurden dadurch verrückt, und
beide geriethen >n Vergessenheit., Shakespeare ist seitdem wieder zu seinem
Recht gelangt, Händel wird es auch zu Theil werden. Endlich folgte bei
Shakespeare auf das Lustspiel die Tragödie, bei Händel auf die Oper das Ora¬
torium, bei beiden das ernstere Werk auf das kleinere und fremdländisch ange¬
legte. Das Vergnügen an der Formbildung muß es verursachen, daß große
Künstler in mittleren Gebieten über einen gewissen Formalismus nicht hinaus¬
kommen, nämlich in solchen, welche ungeeignet sind zur vollen Aufnahme des tie¬
feren Gehaltes, der in diesen Künstlern zur Gestaltung drängt. Shakespeare
führt mit unerschöpflichen Hilfsmitteln sein Lustspiel auf phantastischem
Grunde aus, welches Andere nach ihm einfacher und leichter auf natürlichen
Boden verlegten; daß jener unendlich mehr künstlerische Phantasie voraussetzt,
versteht sich von selbst. Händel hält in seiner Oper vielfach die Formen ein,
deren Durchbrechung Andere nach ihm berühmt gemacht hat, und ergeht sich
in der Schilderung allgemeiner und wenig individuell gefärbter Gemütszustande
und Charaktere mit einem Luxus von Kunstgedauken. welcher vielen seiner
Nachfolger nicht entfernt zu Gebote stand. Das Behagen, welches uns
Shakespeares Lustspiele wie Handels Opern einflößen, ist kein bloß sachliches,
sondern zum guten Theil ein formell künstlerisches, und auch da bewundern
wir den Dichter und Musiker, wo uns die Sache selbst weniger anzkht. Lust¬
spiel und Oper waren wegen der ans sich selt'-se gestellten, völlige eigene Leben¬
digkeit erstrebenden Haltung die besten Mittel, die Künstler im Schaffen sicher
zu machen. Sie waren der Tummelplatz, ans denn diese sich für das. Höhere
und Ernstere stabilen. Dasselbe Genie, welches auf dem Durchgänge durch
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