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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Italien und die Interessen Europas.

Eine vor kurzem in Paris und Genf bei Cherbuliez erschienene anonyme
Broschüre "les me6rues ouropSeus en IWIie" zieht mit Recht die Aufmerk¬
samkeit auf sich. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß sie den jüngst ver-
abschicdetctcn russischen Gesandten zu Frankfurt, Herrn von Fonton zum Ver¬
fasser hat, und es lohnt der Mühe, sich zu überzeugen, wie ein russischer
Staatsmann die Vorgänge in^ Italien beurtheilt und welche Mittel er zur
Lösung der italienischen Frage angibt.

Die Schrift beginnt mit dem Satze, daß Europa sich mit der Aufstellung
des Princips der Nichtintervention in Italien übereilt habe, und daß es auf
sein Recht, die italienischen Angelegenheiten im Sinne des europäischen Gleich¬
gewichts und allgemeinen Interesses zu ordnen, zurückkommen müsse. Dieses
Recht habe Europa aus dem Wiener Kongresse geübt, da die Italiener sich
unfähig gezeigt hätten, die französischen Herrschaft fern zu halten.

Diesen Zweck zu erreichen, theilte man Oestreich eine Stellung in der
Halbinsel zu, die, weise genützt, die Interessen Italiens und Europas com-
biniren sollte. Allein Oestreich verkannte diese Ausgabe vollkommen; statt sich
zur ersten italienischen Macht zu machen, brachte es durch eine fortgesetzte
Mißregierung und zahlreiche politische Mißgriffe die Nothwendigkeit der Frei¬
heitsbestrebungen herbei. Die Darstellung dieser östreichischen Fehlgriffe in
großen Zügen ist vortrefflich gelungen. Nicht minder klar ist die Stellung
gezeichnet, welche England in der italienischen Politik einnahm. England
hatte dabei nur Ein Streben: dem französischen Einflüsse entgegenzuarbeiten,
wo möglich ihm im voraus das Terrain zu verderben. Daher die schwan¬
kende Haltung Englands in den verschiedensten Krisen und Conflicten; be¬
sonders das brüske Auftreten für die nationale Bewegung im Jahre 1847 und
1848 und das Ausgeben desselben, sobald Frankreich durch innere Bewegungen
abgehalten ward, sich principaliter um Italien zu kümmern.


Grenzbow, I, 1S61. ö
Italien und die Interessen Europas.

Eine vor kurzem in Paris und Genf bei Cherbuliez erschienene anonyme
Broschüre „les me6rues ouropSeus en IWIie" zieht mit Recht die Aufmerk¬
samkeit auf sich. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß sie den jüngst ver-
abschicdetctcn russischen Gesandten zu Frankfurt, Herrn von Fonton zum Ver¬
fasser hat, und es lohnt der Mühe, sich zu überzeugen, wie ein russischer
Staatsmann die Vorgänge in^ Italien beurtheilt und welche Mittel er zur
Lösung der italienischen Frage angibt.

Die Schrift beginnt mit dem Satze, daß Europa sich mit der Aufstellung
des Princips der Nichtintervention in Italien übereilt habe, und daß es auf
sein Recht, die italienischen Angelegenheiten im Sinne des europäischen Gleich¬
gewichts und allgemeinen Interesses zu ordnen, zurückkommen müsse. Dieses
Recht habe Europa aus dem Wiener Kongresse geübt, da die Italiener sich
unfähig gezeigt hätten, die französischen Herrschaft fern zu halten.

Diesen Zweck zu erreichen, theilte man Oestreich eine Stellung in der
Halbinsel zu, die, weise genützt, die Interessen Italiens und Europas com-
biniren sollte. Allein Oestreich verkannte diese Ausgabe vollkommen; statt sich
zur ersten italienischen Macht zu machen, brachte es durch eine fortgesetzte
Mißregierung und zahlreiche politische Mißgriffe die Nothwendigkeit der Frei¬
heitsbestrebungen herbei. Die Darstellung dieser östreichischen Fehlgriffe in
großen Zügen ist vortrefflich gelungen. Nicht minder klar ist die Stellung
gezeichnet, welche England in der italienischen Politik einnahm. England
hatte dabei nur Ein Streben: dem französischen Einflüsse entgegenzuarbeiten,
wo möglich ihm im voraus das Terrain zu verderben. Daher die schwan¬
kende Haltung Englands in den verschiedensten Krisen und Conflicten; be¬
sonders das brüske Auftreten für die nationale Bewegung im Jahre 1847 und
1848 und das Ausgeben desselben, sobald Frankreich durch innere Bewegungen
abgehalten ward, sich principaliter um Italien zu kümmern.


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[0051] Italien und die Interessen Europas. Eine vor kurzem in Paris und Genf bei Cherbuliez erschienene anonyme Broschüre „les me6rues ouropSeus en IWIie" zieht mit Recht die Aufmerk¬ samkeit auf sich. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß sie den jüngst ver- abschicdetctcn russischen Gesandten zu Frankfurt, Herrn von Fonton zum Ver¬ fasser hat, und es lohnt der Mühe, sich zu überzeugen, wie ein russischer Staatsmann die Vorgänge in^ Italien beurtheilt und welche Mittel er zur Lösung der italienischen Frage angibt. Die Schrift beginnt mit dem Satze, daß Europa sich mit der Aufstellung des Princips der Nichtintervention in Italien übereilt habe, und daß es auf sein Recht, die italienischen Angelegenheiten im Sinne des europäischen Gleich¬ gewichts und allgemeinen Interesses zu ordnen, zurückkommen müsse. Dieses Recht habe Europa aus dem Wiener Kongresse geübt, da die Italiener sich unfähig gezeigt hätten, die französischen Herrschaft fern zu halten. Diesen Zweck zu erreichen, theilte man Oestreich eine Stellung in der Halbinsel zu, die, weise genützt, die Interessen Italiens und Europas com- biniren sollte. Allein Oestreich verkannte diese Ausgabe vollkommen; statt sich zur ersten italienischen Macht zu machen, brachte es durch eine fortgesetzte Mißregierung und zahlreiche politische Mißgriffe die Nothwendigkeit der Frei¬ heitsbestrebungen herbei. Die Darstellung dieser östreichischen Fehlgriffe in großen Zügen ist vortrefflich gelungen. Nicht minder klar ist die Stellung gezeichnet, welche England in der italienischen Politik einnahm. England hatte dabei nur Ein Streben: dem französischen Einflüsse entgegenzuarbeiten, wo möglich ihm im voraus das Terrain zu verderben. Daher die schwan¬ kende Haltung Englands in den verschiedensten Krisen und Conflicten; be¬ sonders das brüske Auftreten für die nationale Bewegung im Jahre 1847 und 1848 und das Ausgeben desselben, sobald Frankreich durch innere Bewegungen abgehalten ward, sich principaliter um Italien zu kümmern. Grenzbow, I, 1S61. ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/51>, abgerufen am 22.07.2024.