Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

heißt ungefähr, Goethe mit Leopold Wagner vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist
ja vorhanden: von den Zeitgenossen wurden sogar einige Stücke von Lenz Goethe
zugeschrieben; wie das möglich war, versteh" wir heute nicht mehr, -- Es ist
nicht bloß der unermeßliche Unterschied des Talents, der Shakespeare von seinen
Zeitgenossen trennt, sondern hauptsächlich der sittliche Geist. -- Titus Andronicus
ausgenommen, der wie ein Erstlingsversuch eines jungen ungeordneten Talents an¬
zusehen ist, athmen wir bei Shakespeare stets die erfrischendste Luft reiner Menschheit;
bei Fort dagegen, bei Webster und wie sie alle heißen, wird uns übel zu Muth. Wer
die Bestialität rein genießen will, lese z. B. das Stück, dessen Titel Bodenstedt in
"Giovanni und Annabella" verschönert hat. Und Fort ist entschieden einer der
talentvollsten dieser Männer. -- Es ist sehr zweckmäßig, den Boden zu analysiren,
auf dem der Genius aufgewachsen ist; seine Voraussetzungen zu studiren u. s. w.,
nur wähne man nicht, etwas mehr zu finden, als die bloßen Elemente: der Genius
selbst bleibt doch etwas Jneommensurablcs, oder, wenn man sich populärer ausdrückt,
ein Wunder. --

Barnstvrffs: Schlüssel zu Shakespeares Sonetten. Bremen, Kühtmann. --
Der Verfasser versucht, die Sonette, die man bisher auf einen vornehmen jungen
Freund bezogen hat, allegorisch zu deuten: jener junge Freund sei der eigne Genius
des Dichters. -- So mißtrauisch wir jede allegorische Deutung betrachten, wo es
eine realistische gibt, empfehlen wir doch diese Schrift dem aufmerksamen seu.
dium aller Shakespearckenncr, ohne ein Endurtheil füllen zu wollen, das haupt¬
sächlich von gelehrten Gründen gestützt werden müßte. -- Wir stimmen mit dem
Verfasser 1) darin .überein, daß die Mehrzahl dieser Sonette nach der bisherigen
Auslegung uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat; daß wir die Freunde
Shakespeare's nicht begriffen, die so etwas loben konnten; daß wir Shakespeare nicht
begriffen, wie er so etwas schreiben konnte. 2) Die symbolische Deutung, die der
Verfasser versucht, ist schön und des Dichters würdig, und man muß wünschen, daß,
sie stichhaltig wäre. 3) Auf einen großen Theil der Sonette paßt seine Auslegung
ganz ungezwungen, namentlich wenn man den Stil der Zeit erwägt, die der Allegorie
nicht abgeneigt war. 4) Auch wenn sie nicht auf alle passen sollte, würde der Ver¬
sasser noch nicht widerlegt sein, da es wol sein könnte, daß der Dichter anders ge¬
meinte Sonette von verwandter Stimmung nachträglich eingeschoben hätte, vielleicht
gerade um das Urtheil irre zu führen. -- Wir sind sehr begierig, was die eigent¬
lichen Shakespeare-Gelehrten, z. B. Delius und Tycho Mommsen dazu sagen
werden; umgehen dürfen sie die Untersuchung auf keinen Fall, denn es handelt sich,
gerade herausgesagt, darum, einen Dichter, dem man in der ganzen Weltliteratur
am wenigsten eine Albernheit zutrauen sollte, von dem Verdacht einer Albernheit zu
retten, die ebenso das ästhetische wie das sittliche Gefühl verletzt.




heißt ungefähr, Goethe mit Leopold Wagner vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist
ja vorhanden: von den Zeitgenossen wurden sogar einige Stücke von Lenz Goethe
zugeschrieben; wie das möglich war, versteh» wir heute nicht mehr, — Es ist
nicht bloß der unermeßliche Unterschied des Talents, der Shakespeare von seinen
Zeitgenossen trennt, sondern hauptsächlich der sittliche Geist. — Titus Andronicus
ausgenommen, der wie ein Erstlingsversuch eines jungen ungeordneten Talents an¬
zusehen ist, athmen wir bei Shakespeare stets die erfrischendste Luft reiner Menschheit;
bei Fort dagegen, bei Webster und wie sie alle heißen, wird uns übel zu Muth. Wer
die Bestialität rein genießen will, lese z. B. das Stück, dessen Titel Bodenstedt in
„Giovanni und Annabella" verschönert hat. Und Fort ist entschieden einer der
talentvollsten dieser Männer. — Es ist sehr zweckmäßig, den Boden zu analysiren,
auf dem der Genius aufgewachsen ist; seine Voraussetzungen zu studiren u. s. w.,
nur wähne man nicht, etwas mehr zu finden, als die bloßen Elemente: der Genius
selbst bleibt doch etwas Jneommensurablcs, oder, wenn man sich populärer ausdrückt,
ein Wunder. —

Barnstvrffs: Schlüssel zu Shakespeares Sonetten. Bremen, Kühtmann. —
Der Verfasser versucht, die Sonette, die man bisher auf einen vornehmen jungen
Freund bezogen hat, allegorisch zu deuten: jener junge Freund sei der eigne Genius
des Dichters. — So mißtrauisch wir jede allegorische Deutung betrachten, wo es
eine realistische gibt, empfehlen wir doch diese Schrift dem aufmerksamen seu.
dium aller Shakespearckenncr, ohne ein Endurtheil füllen zu wollen, das haupt¬
sächlich von gelehrten Gründen gestützt werden müßte. — Wir stimmen mit dem
Verfasser 1) darin .überein, daß die Mehrzahl dieser Sonette nach der bisherigen
Auslegung uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat; daß wir die Freunde
Shakespeare's nicht begriffen, die so etwas loben konnten; daß wir Shakespeare nicht
begriffen, wie er so etwas schreiben konnte. 2) Die symbolische Deutung, die der
Verfasser versucht, ist schön und des Dichters würdig, und man muß wünschen, daß,
sie stichhaltig wäre. 3) Auf einen großen Theil der Sonette paßt seine Auslegung
ganz ungezwungen, namentlich wenn man den Stil der Zeit erwägt, die der Allegorie
nicht abgeneigt war. 4) Auch wenn sie nicht auf alle passen sollte, würde der Ver¬
sasser noch nicht widerlegt sein, da es wol sein könnte, daß der Dichter anders ge¬
meinte Sonette von verwandter Stimmung nachträglich eingeschoben hätte, vielleicht
gerade um das Urtheil irre zu führen. — Wir sind sehr begierig, was die eigent¬
lichen Shakespeare-Gelehrten, z. B. Delius und Tycho Mommsen dazu sagen
werden; umgehen dürfen sie die Untersuchung auf keinen Fall, denn es handelt sich,
gerade herausgesagt, darum, einen Dichter, dem man in der ganzen Weltliteratur
am wenigsten eine Albernheit zutrauen sollte, von dem Verdacht einer Albernheit zu
retten, die ebenso das ästhetische wie das sittliche Gefühl verletzt.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0489" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111383"/>
          <p xml:id="ID_1641" prev="#ID_1640"> heißt ungefähr, Goethe mit Leopold Wagner vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist<lb/>
ja vorhanden: von den Zeitgenossen wurden sogar einige Stücke von Lenz Goethe<lb/>
zugeschrieben; wie das möglich war, versteh» wir heute nicht mehr, &#x2014; Es ist<lb/>
nicht bloß der unermeßliche Unterschied des Talents, der Shakespeare von seinen<lb/>
Zeitgenossen trennt, sondern hauptsächlich der sittliche Geist. &#x2014; Titus Andronicus<lb/>
ausgenommen, der wie ein Erstlingsversuch eines jungen ungeordneten Talents an¬<lb/>
zusehen ist, athmen wir bei Shakespeare stets die erfrischendste Luft reiner Menschheit;<lb/>
bei Fort dagegen, bei Webster und wie sie alle heißen, wird uns übel zu Muth. Wer<lb/>
die Bestialität rein genießen will, lese z. B. das Stück, dessen Titel Bodenstedt in<lb/>
&#x201E;Giovanni und Annabella" verschönert hat. Und Fort ist entschieden einer der<lb/>
talentvollsten dieser Männer. &#x2014; Es ist sehr zweckmäßig, den Boden zu analysiren,<lb/>
auf dem der Genius aufgewachsen ist; seine Voraussetzungen zu studiren u. s. w.,<lb/>
nur wähne man nicht, etwas mehr zu finden, als die bloßen Elemente: der Genius<lb/>
selbst bleibt doch etwas Jneommensurablcs, oder, wenn man sich populärer ausdrückt,<lb/>
ein Wunder. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1642"> Barnstvrffs: Schlüssel zu Shakespeares Sonetten.  Bremen, Kühtmann. &#x2014;<lb/>
Der Verfasser versucht, die Sonette, die man bisher auf einen vornehmen jungen<lb/>
Freund bezogen hat, allegorisch zu deuten: jener junge Freund sei der eigne Genius<lb/>
des Dichters. &#x2014; So mißtrauisch wir jede allegorische Deutung betrachten, wo es<lb/>
eine realistische gibt, empfehlen wir doch diese Schrift dem aufmerksamen seu.<lb/>
dium aller Shakespearckenncr, ohne ein Endurtheil füllen zu wollen, das haupt¬<lb/>
sächlich von gelehrten Gründen gestützt werden müßte. &#x2014; Wir stimmen mit dem<lb/>
Verfasser 1) darin .überein, daß die Mehrzahl dieser Sonette nach der bisherigen<lb/>
Auslegung uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat; daß wir die Freunde<lb/>
Shakespeare's nicht begriffen, die so etwas loben konnten; daß wir Shakespeare nicht<lb/>
begriffen, wie er so etwas schreiben konnte.  2) Die symbolische Deutung, die der<lb/>
Verfasser versucht, ist schön und des Dichters würdig, und man muß wünschen, daß,<lb/>
sie stichhaltig wäre.  3) Auf einen großen Theil der Sonette paßt seine Auslegung<lb/>
ganz ungezwungen, namentlich wenn man den Stil der Zeit erwägt, die der Allegorie<lb/>
nicht abgeneigt war. 4) Auch wenn sie nicht auf alle passen sollte, würde der Ver¬<lb/>
sasser noch nicht widerlegt sein, da es wol sein könnte, daß der Dichter anders ge¬<lb/>
meinte Sonette von verwandter Stimmung nachträglich eingeschoben hätte, vielleicht<lb/>
gerade um das Urtheil irre zu führen. &#x2014; Wir sind sehr begierig, was die eigent¬<lb/>
lichen Shakespeare-Gelehrten, z. B. Delius und Tycho Mommsen dazu sagen<lb/>
werden; umgehen dürfen sie die Untersuchung auf keinen Fall, denn es handelt sich,<lb/>
gerade herausgesagt, darum, einen Dichter, dem man in der ganzen Weltliteratur<lb/>
am wenigsten eine Albernheit zutrauen sollte, von dem Verdacht einer Albernheit zu<lb/>
retten, die ebenso das ästhetische wie das sittliche Gefühl verletzt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0489] heißt ungefähr, Goethe mit Leopold Wagner vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist ja vorhanden: von den Zeitgenossen wurden sogar einige Stücke von Lenz Goethe zugeschrieben; wie das möglich war, versteh» wir heute nicht mehr, — Es ist nicht bloß der unermeßliche Unterschied des Talents, der Shakespeare von seinen Zeitgenossen trennt, sondern hauptsächlich der sittliche Geist. — Titus Andronicus ausgenommen, der wie ein Erstlingsversuch eines jungen ungeordneten Talents an¬ zusehen ist, athmen wir bei Shakespeare stets die erfrischendste Luft reiner Menschheit; bei Fort dagegen, bei Webster und wie sie alle heißen, wird uns übel zu Muth. Wer die Bestialität rein genießen will, lese z. B. das Stück, dessen Titel Bodenstedt in „Giovanni und Annabella" verschönert hat. Und Fort ist entschieden einer der talentvollsten dieser Männer. — Es ist sehr zweckmäßig, den Boden zu analysiren, auf dem der Genius aufgewachsen ist; seine Voraussetzungen zu studiren u. s. w., nur wähne man nicht, etwas mehr zu finden, als die bloßen Elemente: der Genius selbst bleibt doch etwas Jneommensurablcs, oder, wenn man sich populärer ausdrückt, ein Wunder. — Barnstvrffs: Schlüssel zu Shakespeares Sonetten. Bremen, Kühtmann. — Der Verfasser versucht, die Sonette, die man bisher auf einen vornehmen jungen Freund bezogen hat, allegorisch zu deuten: jener junge Freund sei der eigne Genius des Dichters. — So mißtrauisch wir jede allegorische Deutung betrachten, wo es eine realistische gibt, empfehlen wir doch diese Schrift dem aufmerksamen seu. dium aller Shakespearckenncr, ohne ein Endurtheil füllen zu wollen, das haupt¬ sächlich von gelehrten Gründen gestützt werden müßte. — Wir stimmen mit dem Verfasser 1) darin .überein, daß die Mehrzahl dieser Sonette nach der bisherigen Auslegung uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat; daß wir die Freunde Shakespeare's nicht begriffen, die so etwas loben konnten; daß wir Shakespeare nicht begriffen, wie er so etwas schreiben konnte. 2) Die symbolische Deutung, die der Verfasser versucht, ist schön und des Dichters würdig, und man muß wünschen, daß, sie stichhaltig wäre. 3) Auf einen großen Theil der Sonette paßt seine Auslegung ganz ungezwungen, namentlich wenn man den Stil der Zeit erwägt, die der Allegorie nicht abgeneigt war. 4) Auch wenn sie nicht auf alle passen sollte, würde der Ver¬ sasser noch nicht widerlegt sein, da es wol sein könnte, daß der Dichter anders ge¬ meinte Sonette von verwandter Stimmung nachträglich eingeschoben hätte, vielleicht gerade um das Urtheil irre zu führen. — Wir sind sehr begierig, was die eigent¬ lichen Shakespeare-Gelehrten, z. B. Delius und Tycho Mommsen dazu sagen werden; umgehen dürfen sie die Untersuchung auf keinen Fall, denn es handelt sich, gerade herausgesagt, darum, einen Dichter, dem man in der ganzen Weltliteratur am wenigsten eine Albernheit zutrauen sollte, von dem Verdacht einer Albernheit zu retten, die ebenso das ästhetische wie das sittliche Gefühl verletzt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/489
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/489>, abgerufen am 02.10.2024.