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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Briefe gar nicht übergeben, daß sie dieselben gar nicht gelesen und von seiner
Leidenschaft seine Vorstellung gehabt habe; daß erst bei seinem Abgang nach
Halle ihr diese sowie die betreffenden Stellen des Tagebuchs mitgetheilt seien.
Dem ist nicht so. Louis hat die Briefe abgegeben, auch Abschriften aus
Stellen in seinem Tagebuch; sie hat sie gelesen und darauf geantwortet. Das
Datum dieser Thatsache ist der 17. März 1803 Morgens 10 Uhr.

Wie hat sie ihm geantwortet? Natürlich wie es einer verständigen Frau
geziemt: "Nach Jahren wollen wir von der jetzigen Zeit sprechen." -- Der
junge Mann beschließt zu sterben, er gibt dem Dienstmädchen einen offenen
unversiegelten Brief um einen Apotheker, worin er diesen um eine Quantität
Arsenik gegen die Ratte" ersucht, geht darauf spazieren und läßt in seiner
Stube einen gleichfalls unversiegelten Brief zurück, worin er Madame Herz
seine Absicht mittheilt, nicht länger zu leben. Das Dienstmädchen bringt, wie
sich von selbst versteht, beide ^Briefe sofort zu ihrer Gebieten". Henriette
war eine sehr gescheute Frau, sie war an Anbetung gewohnt, und es war ihr
wol nicht zum erstenmal vorgekommen, daß sich ein hoffnungsloser Anbeter
mit Todesgedanken trug. Aber in solchen Dingen bleibt man immer schwach:
sie erschrak fürchterlich und behandelte den Knaben, nicht wie es sich für seine
16 Jahre schickte, sondern mit düsterem Ernst als edle tugendhafte Frau, die
leider nicht lieben kann. In Folge dessen neuer Brief an den Apotheker,
1. April, mit dem Anerbieten von 10 Louisdor für den betreffenden Arsenik.
Diesmal scheint es Hcnrietten denn doch zu lächerlich .geworden zu sein, sie
tagte ihm das lustige Wort: "ich kann Ihre Liebe zu nichts brauchen."

Dies war die richtige Manier. Von dem Arsenik ist weiter nicht die
Rede, Louis beschwört sie zwar einmal noch flehentlich, ihn doch wenigstens
zu hassen; er fühlt sich noch vor seinein 17. Geburtstag als einen Greis,
aber er fängt an zu reflectiren und witzig zu werden. Jetzt macht er die
Bemerkung über das Sitzen und Stehen; er findet auch, daß er zuweilen ihre
Schwester Brenna mehr liebt als "Jelde"; er geht zuweilen zum Konditor
und hat Augenblicke, wo er sich für furchtbar lasterhaft hält. Der zersetzende
Geist des späteren Börne macht sich bereits geltend. "Die Eitelkeit des Men¬
schen mischt sich in all sei" Thun und Lassen, oft ohne daß man es merkt.
Wenn ich für meine Gedanken und Empfindungen einen passenden Ausdruck
habe und ich erinnere mich, diesen Ausdruck sehen, irgendwo gelesen zu haben,
dann gebrauche ich ihn nicht. Dies ist Eitelkeit: ich möchte gern originell im
Schreibe" sein."

Ja guter Junge! wir haben es wol gemerkt, daß du in deinem Brief
an den Apotheker vermieden hast, dich wie Romeo auszudrücken!

"Wahre echte Sentimentalität gleicht dem reinen kräftigen Kornbranntwein,
der mäßig genossen den Gesunden stärkt und erwärmt; aber die herrschende


59*

Briefe gar nicht übergeben, daß sie dieselben gar nicht gelesen und von seiner
Leidenschaft seine Vorstellung gehabt habe; daß erst bei seinem Abgang nach
Halle ihr diese sowie die betreffenden Stellen des Tagebuchs mitgetheilt seien.
Dem ist nicht so. Louis hat die Briefe abgegeben, auch Abschriften aus
Stellen in seinem Tagebuch; sie hat sie gelesen und darauf geantwortet. Das
Datum dieser Thatsache ist der 17. März 1803 Morgens 10 Uhr.

Wie hat sie ihm geantwortet? Natürlich wie es einer verständigen Frau
geziemt: „Nach Jahren wollen wir von der jetzigen Zeit sprechen." — Der
junge Mann beschließt zu sterben, er gibt dem Dienstmädchen einen offenen
unversiegelten Brief um einen Apotheker, worin er diesen um eine Quantität
Arsenik gegen die Ratte» ersucht, geht darauf spazieren und läßt in seiner
Stube einen gleichfalls unversiegelten Brief zurück, worin er Madame Herz
seine Absicht mittheilt, nicht länger zu leben. Das Dienstmädchen bringt, wie
sich von selbst versteht, beide ^Briefe sofort zu ihrer Gebieten». Henriette
war eine sehr gescheute Frau, sie war an Anbetung gewohnt, und es war ihr
wol nicht zum erstenmal vorgekommen, daß sich ein hoffnungsloser Anbeter
mit Todesgedanken trug. Aber in solchen Dingen bleibt man immer schwach:
sie erschrak fürchterlich und behandelte den Knaben, nicht wie es sich für seine
16 Jahre schickte, sondern mit düsterem Ernst als edle tugendhafte Frau, die
leider nicht lieben kann. In Folge dessen neuer Brief an den Apotheker,
1. April, mit dem Anerbieten von 10 Louisdor für den betreffenden Arsenik.
Diesmal scheint es Hcnrietten denn doch zu lächerlich .geworden zu sein, sie
tagte ihm das lustige Wort: „ich kann Ihre Liebe zu nichts brauchen."

Dies war die richtige Manier. Von dem Arsenik ist weiter nicht die
Rede, Louis beschwört sie zwar einmal noch flehentlich, ihn doch wenigstens
zu hassen; er fühlt sich noch vor seinein 17. Geburtstag als einen Greis,
aber er fängt an zu reflectiren und witzig zu werden. Jetzt macht er die
Bemerkung über das Sitzen und Stehen; er findet auch, daß er zuweilen ihre
Schwester Brenna mehr liebt als „Jelde"; er geht zuweilen zum Konditor
und hat Augenblicke, wo er sich für furchtbar lasterhaft hält. Der zersetzende
Geist des späteren Börne macht sich bereits geltend. „Die Eitelkeit des Men¬
schen mischt sich in all sei» Thun und Lassen, oft ohne daß man es merkt.
Wenn ich für meine Gedanken und Empfindungen einen passenden Ausdruck
habe und ich erinnere mich, diesen Ausdruck sehen, irgendwo gelesen zu haben,
dann gebrauche ich ihn nicht. Dies ist Eitelkeit: ich möchte gern originell im
Schreibe» sein."

Ja guter Junge! wir haben es wol gemerkt, daß du in deinem Brief
an den Apotheker vermieden hast, dich wie Romeo auszudrücken!

„Wahre echte Sentimentalität gleicht dem reinen kräftigen Kornbranntwein,
der mäßig genossen den Gesunden stärkt und erwärmt; aber die herrschende


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[0477] Briefe gar nicht übergeben, daß sie dieselben gar nicht gelesen und von seiner Leidenschaft seine Vorstellung gehabt habe; daß erst bei seinem Abgang nach Halle ihr diese sowie die betreffenden Stellen des Tagebuchs mitgetheilt seien. Dem ist nicht so. Louis hat die Briefe abgegeben, auch Abschriften aus Stellen in seinem Tagebuch; sie hat sie gelesen und darauf geantwortet. Das Datum dieser Thatsache ist der 17. März 1803 Morgens 10 Uhr. Wie hat sie ihm geantwortet? Natürlich wie es einer verständigen Frau geziemt: „Nach Jahren wollen wir von der jetzigen Zeit sprechen." — Der junge Mann beschließt zu sterben, er gibt dem Dienstmädchen einen offenen unversiegelten Brief um einen Apotheker, worin er diesen um eine Quantität Arsenik gegen die Ratte» ersucht, geht darauf spazieren und läßt in seiner Stube einen gleichfalls unversiegelten Brief zurück, worin er Madame Herz seine Absicht mittheilt, nicht länger zu leben. Das Dienstmädchen bringt, wie sich von selbst versteht, beide ^Briefe sofort zu ihrer Gebieten». Henriette war eine sehr gescheute Frau, sie war an Anbetung gewohnt, und es war ihr wol nicht zum erstenmal vorgekommen, daß sich ein hoffnungsloser Anbeter mit Todesgedanken trug. Aber in solchen Dingen bleibt man immer schwach: sie erschrak fürchterlich und behandelte den Knaben, nicht wie es sich für seine 16 Jahre schickte, sondern mit düsterem Ernst als edle tugendhafte Frau, die leider nicht lieben kann. In Folge dessen neuer Brief an den Apotheker, 1. April, mit dem Anerbieten von 10 Louisdor für den betreffenden Arsenik. Diesmal scheint es Hcnrietten denn doch zu lächerlich .geworden zu sein, sie tagte ihm das lustige Wort: „ich kann Ihre Liebe zu nichts brauchen." Dies war die richtige Manier. Von dem Arsenik ist weiter nicht die Rede, Louis beschwört sie zwar einmal noch flehentlich, ihn doch wenigstens zu hassen; er fühlt sich noch vor seinein 17. Geburtstag als einen Greis, aber er fängt an zu reflectiren und witzig zu werden. Jetzt macht er die Bemerkung über das Sitzen und Stehen; er findet auch, daß er zuweilen ihre Schwester Brenna mehr liebt als „Jelde"; er geht zuweilen zum Konditor und hat Augenblicke, wo er sich für furchtbar lasterhaft hält. Der zersetzende Geist des späteren Börne macht sich bereits geltend. „Die Eitelkeit des Men¬ schen mischt sich in all sei» Thun und Lassen, oft ohne daß man es merkt. Wenn ich für meine Gedanken und Empfindungen einen passenden Ausdruck habe und ich erinnere mich, diesen Ausdruck sehen, irgendwo gelesen zu haben, dann gebrauche ich ihn nicht. Dies ist Eitelkeit: ich möchte gern originell im Schreibe» sein." Ja guter Junge! wir haben es wol gemerkt, daß du in deinem Brief an den Apotheker vermieden hast, dich wie Romeo auszudrücken! „Wahre echte Sentimentalität gleicht dem reinen kräftigen Kornbranntwein, der mäßig genossen den Gesunden stärkt und erwärmt; aber die herrschende 59*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/477>, abgerufen am 26.08.2024.