Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.Dies war die Staatemoral des vorigen Jahrhunderts, die Stantsmoral, Das europäische Gleichgewicht bestand bis jetzt darin, daß kein Staat Das Gleichgewicht, dem wir entgegengehen, ist ein anderes. Es werden Wir haben noch einen zweiten Grund, die italienischen Erfolge mit Genug¬ Aber Napoleon? Aber das Festungsviereck? Es ist uns ja gelehrt worden, Aber "unsere deutschen Brüder" in Oestreich? -- Unsere deutschen Brüder 49-
Dies war die Staatemoral des vorigen Jahrhunderts, die Stantsmoral, Das europäische Gleichgewicht bestand bis jetzt darin, daß kein Staat Das Gleichgewicht, dem wir entgegengehen, ist ein anderes. Es werden Wir haben noch einen zweiten Grund, die italienischen Erfolge mit Genug¬ Aber Napoleon? Aber das Festungsviereck? Es ist uns ja gelehrt worden, Aber „unsere deutschen Brüder" in Oestreich? — Unsere deutschen Brüder 49-
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111291"/> <p xml:id="ID_1329"> Dies war die Staatemoral des vorigen Jahrhunderts, die Stantsmoral,<lb/> die noch heute in ihren Wirkungen fortbesteht. Wir glauben an den Fort¬<lb/> schritt der Menschheit, wir glauben, daß die Nachwelt sich über diese Staats¬<lb/> moral entsetzen wird. Und daß wir diesen Glauben hegen, dafür ist die Wen¬<lb/> dung der Dinge in Italien nicht das unbedeutendste Motiv.</p><lb/> <p xml:id="ID_1330"> Das europäische Gleichgewicht bestand bis jetzt darin, daß kein Staat<lb/> dem andern gewachsen war, daß jeder Souverain die Versuchung fühlte, die<lb/> Zahl seiner „Seelen" zu vermehren; daß vier oder fünf militärisch organisirte<lb/> Mächte vorhanden waren, vor denen die andern sich fürchteten, und daß außer¬<lb/> dem alle souveraine an einen unbestimmten Geist der Revolution glaubten,<lb/> den sie nur durch Bajonnette und Censur bündigen könnten. Dies System<lb/> gipfelte in Deutschland und Italien.</p><lb/> <p xml:id="ID_1331"> Das Gleichgewicht, dem wir entgegengehen, ist ein anderes. Es werden<lb/> sich eine Reihe nationaler Staaten bilden, die sich einander gewachsen sind,,<lb/> und von denen keiner den andern zu fürchten hat. Staaten, die keinen Grund<lb/> haben, eine Vergrößerung zu wünschen, weil sie zugleich ein organisches Ganze,<lb/> eine Nation bilden; Staaten, die keinen Grund haben, einen Umsturz zu<lb/> fürchten, weil der König der Erste der Nation und von den Vertretern derselben<lb/> umringt sein wird. — Ob dies Ziel heute, morgen, oder in einem Jahrhun¬<lb/> dert erreicht werden wird: die italienische Bewegung hat den Anstoß dazu<lb/> liegeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1332"> Wir haben noch einen zweiten Grund, die italienischen Erfolge mit Genug¬<lb/> thuung anzusehen. Die ultramontane Partei weiß sehr wohl, was sie thut,<lb/> wenn sie Victor Emanuel verketzert. Denn in diesem Kampf wird zugleich die<lb/> i^riße Kirchenfrage zum Austrag kommen. Wird der Papst Landesbischof einer<lb/> bestimmten Nation, so ist es mit dem Ultramontanismus zu Ende — unwieder¬<lb/> bringlich! und wir Protestanten haben keinen Grund darüber zu trauern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1333"> Aber Napoleon? Aber das Festungsviereck? Es ist uns ja gelehrt worden,<lb/> nach Gründen der Militärwissenschaft müssen die Italiener stets Bundesgenossen<lb/> der Franzosen sein. — Wir fragen nur: welche Interessen haben beide Völker<lb/> mit einander gemein? — Die Italiener werden überwiegend eine Seemacht<lb/> werden, der Tummelplatz ihrer politischen Thätigkeit ist das Mittelmeer. Aus<lb/> diesen, Tummelplatz sind die Franzosen ihre natürlichen Concurrenten. und wir<lb/> eben deshalb ihre natürlichen Verbündeten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1334" next="#ID_1335"> Aber „unsere deutschen Brüder" in Oestreich? — Unsere deutschen Brüder<lb/> sollten mit unserer Gemüthlichkeit nicht zu lange spielen. — Wir finden es<lb/> sehr natürlich, daß sie die Ungarn und andere barbarische Völkerschaften gegen<lb/> ihren Willen zwingen wollen, mit ihnen in einem östreichischen Parlament zu<lb/> sitzen. Wir finden es sehr natürlich, daß sie uns Deutsche im „Reich" zwingen<lb/> wollen, entweder gleichfalls mit ihnen in einem Parlament zu sitzen oder als</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 49-</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0397]
Dies war die Staatemoral des vorigen Jahrhunderts, die Stantsmoral,
die noch heute in ihren Wirkungen fortbesteht. Wir glauben an den Fort¬
schritt der Menschheit, wir glauben, daß die Nachwelt sich über diese Staats¬
moral entsetzen wird. Und daß wir diesen Glauben hegen, dafür ist die Wen¬
dung der Dinge in Italien nicht das unbedeutendste Motiv.
Das europäische Gleichgewicht bestand bis jetzt darin, daß kein Staat
dem andern gewachsen war, daß jeder Souverain die Versuchung fühlte, die
Zahl seiner „Seelen" zu vermehren; daß vier oder fünf militärisch organisirte
Mächte vorhanden waren, vor denen die andern sich fürchteten, und daß außer¬
dem alle souveraine an einen unbestimmten Geist der Revolution glaubten,
den sie nur durch Bajonnette und Censur bündigen könnten. Dies System
gipfelte in Deutschland und Italien.
Das Gleichgewicht, dem wir entgegengehen, ist ein anderes. Es werden
sich eine Reihe nationaler Staaten bilden, die sich einander gewachsen sind,,
und von denen keiner den andern zu fürchten hat. Staaten, die keinen Grund
haben, eine Vergrößerung zu wünschen, weil sie zugleich ein organisches Ganze,
eine Nation bilden; Staaten, die keinen Grund haben, einen Umsturz zu
fürchten, weil der König der Erste der Nation und von den Vertretern derselben
umringt sein wird. — Ob dies Ziel heute, morgen, oder in einem Jahrhun¬
dert erreicht werden wird: die italienische Bewegung hat den Anstoß dazu
liegeben.
Wir haben noch einen zweiten Grund, die italienischen Erfolge mit Genug¬
thuung anzusehen. Die ultramontane Partei weiß sehr wohl, was sie thut,
wenn sie Victor Emanuel verketzert. Denn in diesem Kampf wird zugleich die
i^riße Kirchenfrage zum Austrag kommen. Wird der Papst Landesbischof einer
bestimmten Nation, so ist es mit dem Ultramontanismus zu Ende — unwieder¬
bringlich! und wir Protestanten haben keinen Grund darüber zu trauern.
Aber Napoleon? Aber das Festungsviereck? Es ist uns ja gelehrt worden,
nach Gründen der Militärwissenschaft müssen die Italiener stets Bundesgenossen
der Franzosen sein. — Wir fragen nur: welche Interessen haben beide Völker
mit einander gemein? — Die Italiener werden überwiegend eine Seemacht
werden, der Tummelplatz ihrer politischen Thätigkeit ist das Mittelmeer. Aus
diesen, Tummelplatz sind die Franzosen ihre natürlichen Concurrenten. und wir
eben deshalb ihre natürlichen Verbündeten.
Aber „unsere deutschen Brüder" in Oestreich? — Unsere deutschen Brüder
sollten mit unserer Gemüthlichkeit nicht zu lange spielen. — Wir finden es
sehr natürlich, daß sie die Ungarn und andere barbarische Völkerschaften gegen
ihren Willen zwingen wollen, mit ihnen in einem östreichischen Parlament zu
sitzen. Wir finden es sehr natürlich, daß sie uns Deutsche im „Reich" zwingen
wollen, entweder gleichfalls mit ihnen in einem Parlament zu sitzen oder als
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