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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Freilich diese unvergeßlichen Späße, diese Saturnalien des Witzes und
Scherzes, wie sie die Revision der Faustliteratur, die Beleuchtung des Over-
bcckschcn Triumphs der Religion in den frühern Lieferungen brachten, dürfen
wir in der neuen Folge nicht wieder suchen. Ach, wenn wir in die reifen
Mannesjahre treten, lassen wir ja nicht blos zurück was kindisch war, sondern
auch "jene rothen Backen", in denen es uns bei aller jugendlichen Dumpfheit
so wohl gewesen ist. Doch sei's um die spritzenden Funken: darum kann das
Feuer nur desto Heller lodern, desto heißer glühen. Und so finden wir es in
dieser neuen Folge der Vischerschen Schrift. Während wir das Wissen des
Verfassers bereichert, seinen Gesichtskreis erweitert und seinen Standpunkt er-
höht sehen, zeigt sich sein Auge noch ebenso scharf, sein Herz so warm wie
früher; er springt weniger, aber geht desto sicherer.

Das erste Heft brachte uns eine Ueberraschung: den Aesthetiker mit poli¬
tischen Zeitfragen beschäftigt. Zwischen den Gemäldegalerien besucht er dies'
mal Schlachtfelder; neben dem Verhältniß deutscher und italienischer Kunst ist
von dem Rechte Deutschlands auf italienischen Länderbesitz die Rede; statt
wie ehedem um der einseitigen Verständigkeit seiner Bildung willen, wird
Preußen jetzt wegen seines thatlosen Zuwartens im letzten französisch-östreichi¬
schen Krieg getadelt. Wer hiebei mit dem Politiker auch nicht einverstanden
war. mußte doch dem Patrioten die Hand drücken; wer von Bischer übrigens
lieber Aesthetik als Politik vorgetragen hört, mußte doch zugestehen, daß er hier
beide Fäden mit Geschmack und Wirkung durcheinandcrzuschlingen ge-
wußt habe.

In dem zweiten Hefte, das eben vor uns liegt, hat sich Bischer wieder
in die Grenzen seines Fachs zurückgezogen. Er gibt uns zwei Aufsätze über
Shakespeare, deren erster schon vor siebzehn Jahren in einer Zeitschrift ab¬
gedruckt war. An den Ausstellungen, die der Verfasser in der Vorrede an
seiner älteren Arbeit macht, sehen wir, wie weit unterdessen er selbst und das
Verständniß Shakespeares überhaupt fortgeschritten ist. Das Bedeutendste, was
seit jener Zeit dafür geschehen, ist das Werk von Gervinus, dem auch Bischer
den Borzug des Gediegenen und Körniger, der unversehrten Gesundheit des
Urtheils, der gründlichen Zutagesörderung des tiefen sittlichen Gehalts der
Shakespeareschen Dichtungen nicht streitig macht: gleichwol urtheilt er gewiß
mit Recht, daß eine umfassende Arbeit über Shakespeare als Künstler uns noch
immer fehle. Auch damit kann man nur einverstanden sein, daß Bischer, du
aller Bewunderung des englischen Dichters, diesen doch nicht als etwas Ab¬
solutes nimmt, von dem jeder Tadel auf den Unverstand des Tadelnden z"'
rückfalle, in dessen Werken, wie in einer Offenbarungsurkunde, gernoe hinter
dem, woran wir uns stoßen, unfehlbar die tiefsten Geheimnisse der Kunst ver¬
borgen sein müßten. Er findet Shakespeare bei all seiner Größe behaftet mit


Freilich diese unvergeßlichen Späße, diese Saturnalien des Witzes und
Scherzes, wie sie die Revision der Faustliteratur, die Beleuchtung des Over-
bcckschcn Triumphs der Religion in den frühern Lieferungen brachten, dürfen
wir in der neuen Folge nicht wieder suchen. Ach, wenn wir in die reifen
Mannesjahre treten, lassen wir ja nicht blos zurück was kindisch war, sondern
auch „jene rothen Backen", in denen es uns bei aller jugendlichen Dumpfheit
so wohl gewesen ist. Doch sei's um die spritzenden Funken: darum kann das
Feuer nur desto Heller lodern, desto heißer glühen. Und so finden wir es in
dieser neuen Folge der Vischerschen Schrift. Während wir das Wissen des
Verfassers bereichert, seinen Gesichtskreis erweitert und seinen Standpunkt er-
höht sehen, zeigt sich sein Auge noch ebenso scharf, sein Herz so warm wie
früher; er springt weniger, aber geht desto sicherer.

Das erste Heft brachte uns eine Ueberraschung: den Aesthetiker mit poli¬
tischen Zeitfragen beschäftigt. Zwischen den Gemäldegalerien besucht er dies'
mal Schlachtfelder; neben dem Verhältniß deutscher und italienischer Kunst ist
von dem Rechte Deutschlands auf italienischen Länderbesitz die Rede; statt
wie ehedem um der einseitigen Verständigkeit seiner Bildung willen, wird
Preußen jetzt wegen seines thatlosen Zuwartens im letzten französisch-östreichi¬
schen Krieg getadelt. Wer hiebei mit dem Politiker auch nicht einverstanden
war. mußte doch dem Patrioten die Hand drücken; wer von Bischer übrigens
lieber Aesthetik als Politik vorgetragen hört, mußte doch zugestehen, daß er hier
beide Fäden mit Geschmack und Wirkung durcheinandcrzuschlingen ge-
wußt habe.

In dem zweiten Hefte, das eben vor uns liegt, hat sich Bischer wieder
in die Grenzen seines Fachs zurückgezogen. Er gibt uns zwei Aufsätze über
Shakespeare, deren erster schon vor siebzehn Jahren in einer Zeitschrift ab¬
gedruckt war. An den Ausstellungen, die der Verfasser in der Vorrede an
seiner älteren Arbeit macht, sehen wir, wie weit unterdessen er selbst und das
Verständniß Shakespeares überhaupt fortgeschritten ist. Das Bedeutendste, was
seit jener Zeit dafür geschehen, ist das Werk von Gervinus, dem auch Bischer
den Borzug des Gediegenen und Körniger, der unversehrten Gesundheit des
Urtheils, der gründlichen Zutagesörderung des tiefen sittlichen Gehalts der
Shakespeareschen Dichtungen nicht streitig macht: gleichwol urtheilt er gewiß
mit Recht, daß eine umfassende Arbeit über Shakespeare als Künstler uns noch
immer fehle. Auch damit kann man nur einverstanden sein, daß Bischer, du
aller Bewunderung des englischen Dichters, diesen doch nicht als etwas Ab¬
solutes nimmt, von dem jeder Tadel auf den Unverstand des Tadelnden z»'
rückfalle, in dessen Werken, wie in einer Offenbarungsurkunde, gernoe hinter
dem, woran wir uns stoßen, unfehlbar die tiefsten Geheimnisse der Kunst ver¬
borgen sein müßten. Er findet Shakespeare bei all seiner Größe behaftet mit


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[0342] Freilich diese unvergeßlichen Späße, diese Saturnalien des Witzes und Scherzes, wie sie die Revision der Faustliteratur, die Beleuchtung des Over- bcckschcn Triumphs der Religion in den frühern Lieferungen brachten, dürfen wir in der neuen Folge nicht wieder suchen. Ach, wenn wir in die reifen Mannesjahre treten, lassen wir ja nicht blos zurück was kindisch war, sondern auch „jene rothen Backen", in denen es uns bei aller jugendlichen Dumpfheit so wohl gewesen ist. Doch sei's um die spritzenden Funken: darum kann das Feuer nur desto Heller lodern, desto heißer glühen. Und so finden wir es in dieser neuen Folge der Vischerschen Schrift. Während wir das Wissen des Verfassers bereichert, seinen Gesichtskreis erweitert und seinen Standpunkt er- höht sehen, zeigt sich sein Auge noch ebenso scharf, sein Herz so warm wie früher; er springt weniger, aber geht desto sicherer. Das erste Heft brachte uns eine Ueberraschung: den Aesthetiker mit poli¬ tischen Zeitfragen beschäftigt. Zwischen den Gemäldegalerien besucht er dies' mal Schlachtfelder; neben dem Verhältniß deutscher und italienischer Kunst ist von dem Rechte Deutschlands auf italienischen Länderbesitz die Rede; statt wie ehedem um der einseitigen Verständigkeit seiner Bildung willen, wird Preußen jetzt wegen seines thatlosen Zuwartens im letzten französisch-östreichi¬ schen Krieg getadelt. Wer hiebei mit dem Politiker auch nicht einverstanden war. mußte doch dem Patrioten die Hand drücken; wer von Bischer übrigens lieber Aesthetik als Politik vorgetragen hört, mußte doch zugestehen, daß er hier beide Fäden mit Geschmack und Wirkung durcheinandcrzuschlingen ge- wußt habe. In dem zweiten Hefte, das eben vor uns liegt, hat sich Bischer wieder in die Grenzen seines Fachs zurückgezogen. Er gibt uns zwei Aufsätze über Shakespeare, deren erster schon vor siebzehn Jahren in einer Zeitschrift ab¬ gedruckt war. An den Ausstellungen, die der Verfasser in der Vorrede an seiner älteren Arbeit macht, sehen wir, wie weit unterdessen er selbst und das Verständniß Shakespeares überhaupt fortgeschritten ist. Das Bedeutendste, was seit jener Zeit dafür geschehen, ist das Werk von Gervinus, dem auch Bischer den Borzug des Gediegenen und Körniger, der unversehrten Gesundheit des Urtheils, der gründlichen Zutagesörderung des tiefen sittlichen Gehalts der Shakespeareschen Dichtungen nicht streitig macht: gleichwol urtheilt er gewiß mit Recht, daß eine umfassende Arbeit über Shakespeare als Künstler uns noch immer fehle. Auch damit kann man nur einverstanden sein, daß Bischer, du aller Bewunderung des englischen Dichters, diesen doch nicht als etwas Ab¬ solutes nimmt, von dem jeder Tadel auf den Unverstand des Tadelnden z»' rückfalle, in dessen Werken, wie in einer Offenbarungsurkunde, gernoe hinter dem, woran wir uns stoßen, unfehlbar die tiefsten Geheimnisse der Kunst ver¬ borgen sein müßten. Er findet Shakespeare bei all seiner Größe behaftet mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/342>, abgerufen am 22.07.2024.