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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Schweiz durch die neuen Institutionen die Post-, Münz- und Zolleinheit; da¬
bei behielten die Cantone eine genügende Selbstständiglnt, sie brauchten den
Einheitsstaat nicht^und erreichten, was Noth that, mit Beibehaltung der föde¬
rativem Form.

Hatte die alte Tagsatzung zu wenig geleistet, so war sie doch niemals
mißbraucht worden, um liberale Regungen in den Cantonen zu unterdrücken.
Die patrizischen Regierungen hatten den Muth gehabt, dies selbst zu thun,
ohne ihren Bundestag in Anspruch zu nehmen. Die periodische Presse z. B.
erfreute sich einer so tugendhaften Censur, wie sie nur je durch Carlsbnder und
andere Beschlüsse in Deutschland zur Blüthe gebracht war. In einer Berner
Zeitung las man die interessantesten Berichte über Amerika, Australien und
China, aber nie ein Wort der Kritik über die Verwaltung des eigenen Staa¬
tes. Die Censoren übten eine musterhafte Zucht. Da geschah es, daß eine
Landsgemeinde,, die Versammlung des souverainen Volkes in Appenzell, durch
deren Wahl sämmtliche^Aemter, folglich auch das Censoramt, besetzt wurden,
zu der Ansicht gelangte, sie sehe nicht ein, welchen Nutzen diese Function dem
Gemeinwesen bringe, und weshalb dafür eine, wenn auch noch so kleine Be-.
soldung dem gemeinen Teckel aufgebürdet werden sollte. Kurz, die Landsge-
meinde beschloß, "keinen Censor mehr zu wählen und sonnt war die Presse
frei. , Alsbald gewann die kleine Appenzeller Zeitung eine nie geahnte Wich¬
tigkeit für die Schweiz. Die bedeutendsten Schriftsteller und Staatsmänner
der liberalen Partei wurden ihre Mitarbeiter und weckten die öffentliche Mei¬
nung für die Frage der Bundesreform und für größere Theilnahme des Vol¬
kes an der Gesetzgebung und Verwaltung der Einzelstaaten. Die Cantonsregie-
rungen wehrten sich durch Verbote, aber sie beförderten dadurch nur die Ver¬
breitung des Blattes. Das Organ des Bundes mischte sich nicht in diese
Angelegenheit, die Tagsatzung wagte keinen Eingriff in die Souverainetät
des Cantons Appenzell. Dies geschah in den zwanziger Jahren. Im Jahre
1832 vernichtete der Bundestag in Frankfurt das Preßgesctz, welches die Re¬
gierung mit beiden Kammern in Baden vereinbart und verkündet hatte! --'

Im Jahre 1830 wurde die Zahl der constitutionellen Staaten in Deutsch¬
land um einige vermehrt. Hätte eine oder die andere Regierung damals bei
dem Bundestage den Antrag gestellt, seine Verfassung zu verbessern, und die¬
sen Antrag von Zeit zu Zeit wiederholt, so würde derselbe bis zum Jahre
1848 in den Ausschüssen geschlummert haben.

Wir hätten keine öffentlichen Kammerverhandlungen über Instructionen
an die Bundestagsgesandter, keine öffentlichen Verhandlungen in Frankfurt
über die Bundesreform erlebt; die Zahl der Stimmen für den Antrag hätte
sich nicht allmälig vermehrt, und es hätte also der Bundestag im Jahre 1868.
als das Metternichsche System am Boden lag, nicht, wie die Tagsatzung'


Schweiz durch die neuen Institutionen die Post-, Münz- und Zolleinheit; da¬
bei behielten die Cantone eine genügende Selbstständiglnt, sie brauchten den
Einheitsstaat nicht^und erreichten, was Noth that, mit Beibehaltung der föde¬
rativem Form.

Hatte die alte Tagsatzung zu wenig geleistet, so war sie doch niemals
mißbraucht worden, um liberale Regungen in den Cantonen zu unterdrücken.
Die patrizischen Regierungen hatten den Muth gehabt, dies selbst zu thun,
ohne ihren Bundestag in Anspruch zu nehmen. Die periodische Presse z. B.
erfreute sich einer so tugendhaften Censur, wie sie nur je durch Carlsbnder und
andere Beschlüsse in Deutschland zur Blüthe gebracht war. In einer Berner
Zeitung las man die interessantesten Berichte über Amerika, Australien und
China, aber nie ein Wort der Kritik über die Verwaltung des eigenen Staa¬
tes. Die Censoren übten eine musterhafte Zucht. Da geschah es, daß eine
Landsgemeinde,, die Versammlung des souverainen Volkes in Appenzell, durch
deren Wahl sämmtliche^Aemter, folglich auch das Censoramt, besetzt wurden,
zu der Ansicht gelangte, sie sehe nicht ein, welchen Nutzen diese Function dem
Gemeinwesen bringe, und weshalb dafür eine, wenn auch noch so kleine Be-.
soldung dem gemeinen Teckel aufgebürdet werden sollte. Kurz, die Landsge-
meinde beschloß, "keinen Censor mehr zu wählen und sonnt war die Presse
frei. , Alsbald gewann die kleine Appenzeller Zeitung eine nie geahnte Wich¬
tigkeit für die Schweiz. Die bedeutendsten Schriftsteller und Staatsmänner
der liberalen Partei wurden ihre Mitarbeiter und weckten die öffentliche Mei¬
nung für die Frage der Bundesreform und für größere Theilnahme des Vol¬
kes an der Gesetzgebung und Verwaltung der Einzelstaaten. Die Cantonsregie-
rungen wehrten sich durch Verbote, aber sie beförderten dadurch nur die Ver¬
breitung des Blattes. Das Organ des Bundes mischte sich nicht in diese
Angelegenheit, die Tagsatzung wagte keinen Eingriff in die Souverainetät
des Cantons Appenzell. Dies geschah in den zwanziger Jahren. Im Jahre
1832 vernichtete der Bundestag in Frankfurt das Preßgesctz, welches die Re¬
gierung mit beiden Kammern in Baden vereinbart und verkündet hatte! —'

Im Jahre 1830 wurde die Zahl der constitutionellen Staaten in Deutsch¬
land um einige vermehrt. Hätte eine oder die andere Regierung damals bei
dem Bundestage den Antrag gestellt, seine Verfassung zu verbessern, und die¬
sen Antrag von Zeit zu Zeit wiederholt, so würde derselbe bis zum Jahre
1848 in den Ausschüssen geschlummert haben.

Wir hätten keine öffentlichen Kammerverhandlungen über Instructionen
an die Bundestagsgesandter, keine öffentlichen Verhandlungen in Frankfurt
über die Bundesreform erlebt; die Zahl der Stimmen für den Antrag hätte
sich nicht allmälig vermehrt, und es hätte also der Bundestag im Jahre 1868.
als das Metternichsche System am Boden lag, nicht, wie die Tagsatzung'


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[0334] Schweiz durch die neuen Institutionen die Post-, Münz- und Zolleinheit; da¬ bei behielten die Cantone eine genügende Selbstständiglnt, sie brauchten den Einheitsstaat nicht^und erreichten, was Noth that, mit Beibehaltung der föde¬ rativem Form. Hatte die alte Tagsatzung zu wenig geleistet, so war sie doch niemals mißbraucht worden, um liberale Regungen in den Cantonen zu unterdrücken. Die patrizischen Regierungen hatten den Muth gehabt, dies selbst zu thun, ohne ihren Bundestag in Anspruch zu nehmen. Die periodische Presse z. B. erfreute sich einer so tugendhaften Censur, wie sie nur je durch Carlsbnder und andere Beschlüsse in Deutschland zur Blüthe gebracht war. In einer Berner Zeitung las man die interessantesten Berichte über Amerika, Australien und China, aber nie ein Wort der Kritik über die Verwaltung des eigenen Staa¬ tes. Die Censoren übten eine musterhafte Zucht. Da geschah es, daß eine Landsgemeinde,, die Versammlung des souverainen Volkes in Appenzell, durch deren Wahl sämmtliche^Aemter, folglich auch das Censoramt, besetzt wurden, zu der Ansicht gelangte, sie sehe nicht ein, welchen Nutzen diese Function dem Gemeinwesen bringe, und weshalb dafür eine, wenn auch noch so kleine Be-. soldung dem gemeinen Teckel aufgebürdet werden sollte. Kurz, die Landsge- meinde beschloß, "keinen Censor mehr zu wählen und sonnt war die Presse frei. , Alsbald gewann die kleine Appenzeller Zeitung eine nie geahnte Wich¬ tigkeit für die Schweiz. Die bedeutendsten Schriftsteller und Staatsmänner der liberalen Partei wurden ihre Mitarbeiter und weckten die öffentliche Mei¬ nung für die Frage der Bundesreform und für größere Theilnahme des Vol¬ kes an der Gesetzgebung und Verwaltung der Einzelstaaten. Die Cantonsregie- rungen wehrten sich durch Verbote, aber sie beförderten dadurch nur die Ver¬ breitung des Blattes. Das Organ des Bundes mischte sich nicht in diese Angelegenheit, die Tagsatzung wagte keinen Eingriff in die Souverainetät des Cantons Appenzell. Dies geschah in den zwanziger Jahren. Im Jahre 1832 vernichtete der Bundestag in Frankfurt das Preßgesctz, welches die Re¬ gierung mit beiden Kammern in Baden vereinbart und verkündet hatte! —' Im Jahre 1830 wurde die Zahl der constitutionellen Staaten in Deutsch¬ land um einige vermehrt. Hätte eine oder die andere Regierung damals bei dem Bundestage den Antrag gestellt, seine Verfassung zu verbessern, und die¬ sen Antrag von Zeit zu Zeit wiederholt, so würde derselbe bis zum Jahre 1848 in den Ausschüssen geschlummert haben. Wir hätten keine öffentlichen Kammerverhandlungen über Instructionen an die Bundestagsgesandter, keine öffentlichen Verhandlungen in Frankfurt über die Bundesreform erlebt; die Zahl der Stimmen für den Antrag hätte sich nicht allmälig vermehrt, und es hätte also der Bundestag im Jahre 1868. als das Metternichsche System am Boden lag, nicht, wie die Tagsatzung'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/334>, abgerufen am 25.08.2024.