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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Effect, immerhin Etwas für das Volk, was Frankfurt nicht bietet. Dazu kam
noch ein sprachliches Interesse. Jeder Gesandte sprach in seiner heimatlichen
Zunge, man hörte nicht nur verschiedene oberdeutsche Mundarten, sondern auch
französisch und italienisch- Ein äußerst gewandter Dolmetscher gab nach An¬
hörung eines deutschen Bortrags den Sinn desselben sofort französisch wieder, wo¬
mit sich in der Regel auch der italienische Tessiner zufrieden gab, und um¬
gekehrt die französische Rede in deutscher Sprache. Man könnte, wenn man
wollte, in Frankfurt ähnliche Sprachstudien treiben, wenn die Gesandten von
Dänemark und Niederland in der Bundesversammlung eben so sprechen woll¬
ten, wie ihre Bundesländer regiert werden, nämlich holländisch und dünisch.
Die Abstimmungen der Tagsatzung zeigten außerdem noch das arithmetische
Cunosum, daß zwei halbe Stimmen nur in den seltensten Füllen eine ganze
ausmachten. Jeder Halbcanton. Baselstadt und Baselland. Appenzell-Immer-
'hoben und Appenzell-Außerrhoden. hatte eine halbe Stimme; aber nur die beiden
zusammen gehörigen Cantonshülften bildeten eine ganze Stimme. Da sich
die betreffenden Cnutone gerade darum getrennt hatten, weil sie nicht einig waren,
so sielen ihre halben Stimmen regelmäßig in entgegengesetzter Richtung. Ba¬
selstadt stimmte mit Jnnerrhoden conservativ, Baselland mit Außerrhoden libe-
wl, und dann waren die beiden halben Stimmen keine ganze. Dieser Um¬
stand gewann eine historische Bedeutung, als im Jahre 1830 in den größern
Cantonen die Patrizier ihre Macht verloren, die Bauern auf den curulischen
Stühlen Platz nahmen und neben der Preßfreiheit. dem Straßenbau, dem
Volksschulwesen und anderen nützlichen Dingen auch eine bessere Bundesver-
iassung verlangten. Der Antrag kam an die Tagsatzung und es wurde zu¬
nächst über die Vorfrage verhandelt, ob die Tagsatzung selbst die Reform in
die Hand nehmen oder ob eine besondere constituircnde Versammlung damit
betraut, und im bejahenden Falle, wie dieselbe zusammengesetzt werden solle.
Die Mehrheit für einen Beschluß erforderte zwölf Stimmen, aber so viele wa-
"n für keinen Antrag zu erlangen; so kam Jahr sür Jahr die Reformfrage
Wieder aus die Tractanden und schleppte sich sechzehn Jahre lang unerledigt
bin. Zuletzt hatten sich eilf und zwei halbe Stimmen für einen Antrag ver¬
einigt, aber es waren leider nicht zwölf Stimmen, denn die zwei halben waren
Appenzell-Außerrhoden und Baselland. Da kam 1847 der Sonderbundskrieg.
die kleinen Kantone wurden von den großen besiegt und durften beklagen, daß
'dre leichtsinnigen Väter vor Jahrhunderten die anderen in ihren Bund aufge¬
nommen hatten. Nun drang das Bedürfniß stärkerer Einigung durch, zumal die
Gefahr fremder Einmischung nahegerückt war. Die Tagsatzung selbst, besser
'nstruirt. brachte in Monatsfrist (vom 15. Mai bis 27. Juni 1848) den Ent¬
wurf der neuen Bundesverfassung zu Stande, welcher vom Volke und von den
Regierungen unverändert angenommen wurde. In kurzer Frist gewann die


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Effect, immerhin Etwas für das Volk, was Frankfurt nicht bietet. Dazu kam
noch ein sprachliches Interesse. Jeder Gesandte sprach in seiner heimatlichen
Zunge, man hörte nicht nur verschiedene oberdeutsche Mundarten, sondern auch
französisch und italienisch- Ein äußerst gewandter Dolmetscher gab nach An¬
hörung eines deutschen Bortrags den Sinn desselben sofort französisch wieder, wo¬
mit sich in der Regel auch der italienische Tessiner zufrieden gab, und um¬
gekehrt die französische Rede in deutscher Sprache. Man könnte, wenn man
wollte, in Frankfurt ähnliche Sprachstudien treiben, wenn die Gesandten von
Dänemark und Niederland in der Bundesversammlung eben so sprechen woll¬
ten, wie ihre Bundesländer regiert werden, nämlich holländisch und dünisch.
Die Abstimmungen der Tagsatzung zeigten außerdem noch das arithmetische
Cunosum, daß zwei halbe Stimmen nur in den seltensten Füllen eine ganze
ausmachten. Jeder Halbcanton. Baselstadt und Baselland. Appenzell-Immer-
'hoben und Appenzell-Außerrhoden. hatte eine halbe Stimme; aber nur die beiden
zusammen gehörigen Cantonshülften bildeten eine ganze Stimme. Da sich
die betreffenden Cnutone gerade darum getrennt hatten, weil sie nicht einig waren,
so sielen ihre halben Stimmen regelmäßig in entgegengesetzter Richtung. Ba¬
selstadt stimmte mit Jnnerrhoden conservativ, Baselland mit Außerrhoden libe-
wl, und dann waren die beiden halben Stimmen keine ganze. Dieser Um¬
stand gewann eine historische Bedeutung, als im Jahre 1830 in den größern
Cantonen die Patrizier ihre Macht verloren, die Bauern auf den curulischen
Stühlen Platz nahmen und neben der Preßfreiheit. dem Straßenbau, dem
Volksschulwesen und anderen nützlichen Dingen auch eine bessere Bundesver-
iassung verlangten. Der Antrag kam an die Tagsatzung und es wurde zu¬
nächst über die Vorfrage verhandelt, ob die Tagsatzung selbst die Reform in
die Hand nehmen oder ob eine besondere constituircnde Versammlung damit
betraut, und im bejahenden Falle, wie dieselbe zusammengesetzt werden solle.
Die Mehrheit für einen Beschluß erforderte zwölf Stimmen, aber so viele wa-
"n für keinen Antrag zu erlangen; so kam Jahr sür Jahr die Reformfrage
Wieder aus die Tractanden und schleppte sich sechzehn Jahre lang unerledigt
bin. Zuletzt hatten sich eilf und zwei halbe Stimmen für einen Antrag ver¬
einigt, aber es waren leider nicht zwölf Stimmen, denn die zwei halben waren
Appenzell-Außerrhoden und Baselland. Da kam 1847 der Sonderbundskrieg.
die kleinen Kantone wurden von den großen besiegt und durften beklagen, daß
'dre leichtsinnigen Väter vor Jahrhunderten die anderen in ihren Bund aufge¬
nommen hatten. Nun drang das Bedürfniß stärkerer Einigung durch, zumal die
Gefahr fremder Einmischung nahegerückt war. Die Tagsatzung selbst, besser
'nstruirt. brachte in Monatsfrist (vom 15. Mai bis 27. Juni 1848) den Ent¬
wurf der neuen Bundesverfassung zu Stande, welcher vom Volke und von den
Regierungen unverändert angenommen wurde. In kurzer Frist gewann die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/333>, abgerufen am 25.08.2024.