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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Haller's Artikel in den Göttinger Anzeigen beschäftigen sich hauptsächlich
"ut den französischen Freigeistern^ -- 1747 bringt er gegen Voltaire das
Argument vor. die christlichen Wunder seien durck, Augenzeugen bestätigte die
heidnischen nicht, 1748 vertheidigt er den "strengen, eifrigen Gott, der die
Sünden der Vater heimsucht" n, s. w,, gegen den bequemen von Dien des Deis¬
mus, -- 1750 findet der Briefwechsel mit Lamettrie statt, der die Unver¬
schämtheit hatte, eins seiner fuchsten atheistischen Machwerke Haller zu widmen,
seinem angeblichen Lehrer und Zechbrüder. Es ist der Mühe werth, bei Znn-
mermann nachzulesen, wie damals die Sache aufgefaßt wurde. -- Abgesehn
von den persönlichen Erörterungen gab Haller in der "Prüfung der Seele, die
an Allem zweifelt." 1750 eine -- freilich, sehr politische -- Widerlegung des
Atheismus: er wies nämlich die praktischen Folgen 5es Unglaubens nach.
Aus dem Atheismus folge die allgemeine Auflösung der Gesellschaft, die Herr-
schaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle; ans der Liebe Gottes gehn
alle Tugenden hervor. Der sei noch kein rechter Atheist, der etwas Anderes
l'the als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringe das wenige Gute.
was er noch habe, aus deu Resten des Christenthums. -- Früher hatte Hal¬
le" wie Wolf und die Mehrzahl der damaligen Philosophen, in manchen heid¬
nischen Ländern, namentlich in China, eine vortreffliche Moralität gefunden:
jetzt zeigt er. daß Alles Lug und Trug sei. -- Die Leugner eines rächen¬
den Gottes (also auch die Deisten) und eines ewigen Lebens schränken unsere
Glückseligkeit auf die kurze Dauer unsrer wenigen Jahre, und auf den Genuß
der Wollust, der Ehre, kurz auf'angenehme Empfindungen ein. -- "Sollten
nichl". schließt er, "die Gelehrten, denen ein vorzügliches Maß der Erkennt¬
niß zu Theil geworden, sie ihrem Geber heiligen? und statt unnützer kleiner
Untersuchungen (Physiologie u. s. w.) das einzig Nothwendige, das Kreuz
Christi, mit Rührung. Wehmut!) und Nachdruck predigen? Und sollte nicht
e>n jeder Christ in seinem eigenen Busen den Keim des Uebels auszurotten
sich bestreben, und bei sich selbst anfangen, dem Unglauben die überzengen-
'den Beispiele eines wahren Christen entgegenzustellen? gegen welche die Götzen
des Heidenthums und die Prahlereien der Weltweisheit wie die Schatten der
Reiche beim Anbruch der Morgenröthe verschwinden." --

Indem er 1750 Buffon wegen seiner Erdichtungen ziemlich schroff zu¬
rückweist, vertheidigt er doch den "Nutzen der Hypothesen." Freilich habe
Cartesius durch sein leichtfertiges Construiren die Forschung zur Indolenz ver¬
führt, und die Verbesserung der Vergrößerungsgläser und anderer Mittel der
Beobachtung habe der Wissenschaft mehr genutzt als alle aprioristische Grübelei.
Wollte man aber die Hypothese -- den natürlichen Ausdruck der menschlichen
Neugier -- ganz aufgeben, so würde die Menschheit erstarren. Die Hypo¬
thesen sind nicht die Wahrheit, aber sie führen zur Wahrheit, wenn auch


Haller's Artikel in den Göttinger Anzeigen beschäftigen sich hauptsächlich
»ut den französischen Freigeistern^ — 1747 bringt er gegen Voltaire das
Argument vor. die christlichen Wunder seien durck, Augenzeugen bestätigte die
heidnischen nicht, 1748 vertheidigt er den „strengen, eifrigen Gott, der die
Sünden der Vater heimsucht" n, s. w,, gegen den bequemen von Dien des Deis¬
mus, — 1750 findet der Briefwechsel mit Lamettrie statt, der die Unver¬
schämtheit hatte, eins seiner fuchsten atheistischen Machwerke Haller zu widmen,
seinem angeblichen Lehrer und Zechbrüder. Es ist der Mühe werth, bei Znn-
mermann nachzulesen, wie damals die Sache aufgefaßt wurde. — Abgesehn
von den persönlichen Erörterungen gab Haller in der „Prüfung der Seele, die
an Allem zweifelt." 1750 eine — freilich, sehr politische — Widerlegung des
Atheismus: er wies nämlich die praktischen Folgen 5es Unglaubens nach.
Aus dem Atheismus folge die allgemeine Auflösung der Gesellschaft, die Herr-
schaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle; ans der Liebe Gottes gehn
alle Tugenden hervor. Der sei noch kein rechter Atheist, der etwas Anderes
l'the als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringe das wenige Gute.
was er noch habe, aus deu Resten des Christenthums. — Früher hatte Hal¬
le» wie Wolf und die Mehrzahl der damaligen Philosophen, in manchen heid¬
nischen Ländern, namentlich in China, eine vortreffliche Moralität gefunden:
jetzt zeigt er. daß Alles Lug und Trug sei. — Die Leugner eines rächen¬
den Gottes (also auch die Deisten) und eines ewigen Lebens schränken unsere
Glückseligkeit auf die kurze Dauer unsrer wenigen Jahre, und auf den Genuß
der Wollust, der Ehre, kurz auf'angenehme Empfindungen ein. — „Sollten
nichl". schließt er, „die Gelehrten, denen ein vorzügliches Maß der Erkennt¬
niß zu Theil geworden, sie ihrem Geber heiligen? und statt unnützer kleiner
Untersuchungen (Physiologie u. s. w.) das einzig Nothwendige, das Kreuz
Christi, mit Rührung. Wehmut!) und Nachdruck predigen? Und sollte nicht
e>n jeder Christ in seinem eigenen Busen den Keim des Uebels auszurotten
sich bestreben, und bei sich selbst anfangen, dem Unglauben die überzengen-
'den Beispiele eines wahren Christen entgegenzustellen? gegen welche die Götzen
des Heidenthums und die Prahlereien der Weltweisheit wie die Schatten der
Reiche beim Anbruch der Morgenröthe verschwinden." —

Indem er 1750 Buffon wegen seiner Erdichtungen ziemlich schroff zu¬
rückweist, vertheidigt er doch den „Nutzen der Hypothesen." Freilich habe
Cartesius durch sein leichtfertiges Construiren die Forschung zur Indolenz ver¬
führt, und die Verbesserung der Vergrößerungsgläser und anderer Mittel der
Beobachtung habe der Wissenschaft mehr genutzt als alle aprioristische Grübelei.
Wollte man aber die Hypothese — den natürlichen Ausdruck der menschlichen
Neugier — ganz aufgeben, so würde die Menschheit erstarren. Die Hypo¬
thesen sind nicht die Wahrheit, aber sie führen zur Wahrheit, wenn auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/287>, abgerufen am 25.08.2024.