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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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in der Geschichte. Die bedeutendste von jenen Satiren ist die "über die Falsch¬
heit menschlicher Tugenden," und man muß darauf achten, .daß sie sich haupt¬
sächlich gegen den Pietismus und Phnrisäismns wendet. Die Verachtung ge-,
gen die Missionäre, die bei den Heiden den Märtyrertod leide" und dasür bei
den Christen als Heilige angebetet werden, ist in den stärksten Worten ausge¬
druckt. ("Ist denn der ein Held, der am verdienten Strick noch prahlt am
Galgenfeld?)" Nun kann man freilich sagen, daß dies zunächst den Katholiken
gilt, weil das protestantische Missionswesen noch nicht im Gange war; aber
die Sache bleibt dieselbe, und um keinen Zweifel zu lassen, wird zuletzt die
Lehre Epikurs verherrlicht:


Nicht jenes Wahngespcnft, das Zeno sich erdichtet,
Das nur auf Dornen geht, zum Elend sich verpflichtet,
Die Welt zu", Kerker macht, mit Müh sich Qual ert'lese,
Und unerträglicher als altes Uebel ist.

Später hat er freilich hinzugesetzt, Epikur sei ein PlagiariuS gewesen u. s. w.,
das ändert aber wieder an der Sache nichts: im Jahre 1730, als er jenes
Gedicht schrieb, stand er, der spätere Pietist, auf demselben Boden des Natu¬
ralismus und Deismus, auf den seine nachmaligen Gegner Voltaire und
Rousseau sich stellten. Ein Zug, der noch weiter in diesem Gedicht an
Roussinu erinnert, ist die Verherrlichung der Indianer; am freudigsten aber
würde Rousseau die folgenden Zeilen unterschreiben:


Von dir, selbstständig's Gut, unendlich's Gnadenmeer
Kommt dieser gute Zug wie alles Gute her.
Das Herz folgt unbewußt der Wirkung deiner Liebe,
Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe.

D. h. mit andern Worten: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist gut; der
Pietismus dagegen lehrte: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist böse. Dies
ist der große Gegensatz, der das achtzehnte'Jahrhundert bewegt; in Frankreich
bis zur großen Revolution, in Deutschland, bis ihm Kant eine höhere Lo¬
sung gibt.

Was deu Umschwung bei Hall er herbeiführte -- er soll ums Jahr 17>^
stattgefunden haben -- ist nicht vollständig bekannt, nach seiner eigenen An'
gäbe die Lectüre eines religiösen Buchs. Die beiden folgenden großen Ge¬
dichte "über den Ursprung des Uebels" 1734 und über "die Ewigkeit" N3<>
sind schon in der neuen Stimmung geschrieben; indeß drücken sie nicht eine
fertige Denkart, sondern nur das Ringen eines Geistes aus. der mit sich s^bst
in Unfrieden ist und die Lösung wohl hofft aber nicht findet. Die alte
Stimmung der Satiren dauert fort, nur wird die Invective diesmal von den
Verner Patriciern auf das ganze Menschengeschlecht ausgedehnt. Von jenem


in der Geschichte. Die bedeutendste von jenen Satiren ist die „über die Falsch¬
heit menschlicher Tugenden," und man muß darauf achten, .daß sie sich haupt¬
sächlich gegen den Pietismus und Phnrisäismns wendet. Die Verachtung ge-,
gen die Missionäre, die bei den Heiden den Märtyrertod leide» und dasür bei
den Christen als Heilige angebetet werden, ist in den stärksten Worten ausge¬
druckt. („Ist denn der ein Held, der am verdienten Strick noch prahlt am
Galgenfeld?)" Nun kann man freilich sagen, daß dies zunächst den Katholiken
gilt, weil das protestantische Missionswesen noch nicht im Gange war; aber
die Sache bleibt dieselbe, und um keinen Zweifel zu lassen, wird zuletzt die
Lehre Epikurs verherrlicht:


Nicht jenes Wahngespcnft, das Zeno sich erdichtet,
Das nur auf Dornen geht, zum Elend sich verpflichtet,
Die Welt zu», Kerker macht, mit Müh sich Qual ert'lese,
Und unerträglicher als altes Uebel ist.

Später hat er freilich hinzugesetzt, Epikur sei ein PlagiariuS gewesen u. s. w.,
das ändert aber wieder an der Sache nichts: im Jahre 1730, als er jenes
Gedicht schrieb, stand er, der spätere Pietist, auf demselben Boden des Natu¬
ralismus und Deismus, auf den seine nachmaligen Gegner Voltaire und
Rousseau sich stellten. Ein Zug, der noch weiter in diesem Gedicht an
Roussinu erinnert, ist die Verherrlichung der Indianer; am freudigsten aber
würde Rousseau die folgenden Zeilen unterschreiben:


Von dir, selbstständig's Gut, unendlich's Gnadenmeer
Kommt dieser gute Zug wie alles Gute her.
Das Herz folgt unbewußt der Wirkung deiner Liebe,
Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe.

D. h. mit andern Worten: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist gut; der
Pietismus dagegen lehrte: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist böse. Dies
ist der große Gegensatz, der das achtzehnte'Jahrhundert bewegt; in Frankreich
bis zur großen Revolution, in Deutschland, bis ihm Kant eine höhere Lo¬
sung gibt.

Was deu Umschwung bei Hall er herbeiführte — er soll ums Jahr 17>^
stattgefunden haben — ist nicht vollständig bekannt, nach seiner eigenen An'
gäbe die Lectüre eines religiösen Buchs. Die beiden folgenden großen Ge¬
dichte „über den Ursprung des Uebels" 1734 und über „die Ewigkeit" N3<>
sind schon in der neuen Stimmung geschrieben; indeß drücken sie nicht eine
fertige Denkart, sondern nur das Ringen eines Geistes aus. der mit sich s^bst
in Unfrieden ist und die Lösung wohl hofft aber nicht findet. Die alte
Stimmung der Satiren dauert fort, nur wird die Invective diesmal von den
Verner Patriciern auf das ganze Menschengeschlecht ausgedehnt. Von jenem


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[0282] in der Geschichte. Die bedeutendste von jenen Satiren ist die „über die Falsch¬ heit menschlicher Tugenden," und man muß darauf achten, .daß sie sich haupt¬ sächlich gegen den Pietismus und Phnrisäismns wendet. Die Verachtung ge-, gen die Missionäre, die bei den Heiden den Märtyrertod leide» und dasür bei den Christen als Heilige angebetet werden, ist in den stärksten Worten ausge¬ druckt. („Ist denn der ein Held, der am verdienten Strick noch prahlt am Galgenfeld?)" Nun kann man freilich sagen, daß dies zunächst den Katholiken gilt, weil das protestantische Missionswesen noch nicht im Gange war; aber die Sache bleibt dieselbe, und um keinen Zweifel zu lassen, wird zuletzt die Lehre Epikurs verherrlicht: Nicht jenes Wahngespcnft, das Zeno sich erdichtet, Das nur auf Dornen geht, zum Elend sich verpflichtet, Die Welt zu», Kerker macht, mit Müh sich Qual ert'lese, Und unerträglicher als altes Uebel ist. Später hat er freilich hinzugesetzt, Epikur sei ein PlagiariuS gewesen u. s. w., das ändert aber wieder an der Sache nichts: im Jahre 1730, als er jenes Gedicht schrieb, stand er, der spätere Pietist, auf demselben Boden des Natu¬ ralismus und Deismus, auf den seine nachmaligen Gegner Voltaire und Rousseau sich stellten. Ein Zug, der noch weiter in diesem Gedicht an Roussinu erinnert, ist die Verherrlichung der Indianer; am freudigsten aber würde Rousseau die folgenden Zeilen unterschreiben: Von dir, selbstständig's Gut, unendlich's Gnadenmeer Kommt dieser gute Zug wie alles Gute her. Das Herz folgt unbewußt der Wirkung deiner Liebe, Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe. D. h. mit andern Worten: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist gut; der Pietismus dagegen lehrte: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist böse. Dies ist der große Gegensatz, der das achtzehnte'Jahrhundert bewegt; in Frankreich bis zur großen Revolution, in Deutschland, bis ihm Kant eine höhere Lo¬ sung gibt. Was deu Umschwung bei Hall er herbeiführte — er soll ums Jahr 17>^ stattgefunden haben — ist nicht vollständig bekannt, nach seiner eigenen An' gäbe die Lectüre eines religiösen Buchs. Die beiden folgenden großen Ge¬ dichte „über den Ursprung des Uebels" 1734 und über „die Ewigkeit" N3<> sind schon in der neuen Stimmung geschrieben; indeß drücken sie nicht eine fertige Denkart, sondern nur das Ringen eines Geistes aus. der mit sich s^bst in Unfrieden ist und die Lösung wohl hofft aber nicht findet. Die alte Stimmung der Satiren dauert fort, nur wird die Invective diesmal von den Verner Patriciern auf das ganze Menschengeschlecht ausgedehnt. Von jenem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/282>, abgerufen am 25.08.2024.