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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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deo Ruhm eines Bernouilli, eines Euler wird bleiben, wenn man nicht
mehr weis;, daß Schweizer gestritten haben." -- Eine solche Aeußerung, die
in heuer Zeit keineswegs vereinzelt dasteht, lehrt uns, ein wie großes Verdienst
sich Johannes Müller nicht blos um die Schweiz, sondern um unsre ganze
historische Auffassung erworben hat.

Was Mörikofer über die andern Seiten Hallers sagt, genügt nicht; am
meisten h.at uns in Erstannen gesetzt, was er S. "3 über Hallers Tagebuch
bemerkt; er kann dasselbe unmöglich vor Augen gehabt haben, denn das Meiste
ist unrichtig. Doch können wir diesen Punkt übcrgehlt, da wir vor kurzer Zeit
den Lesern der Grenzboten einen Auszug aus diesem Tagebuch gegeben haben.
Wenn das Christenthum keine bessern Empfehlungen hätte, als diese uuglück-
leligen Grübeleien., in denen 'ein stolzer Geist mit seiner Hypochondrie coquettirt
-~ der Ausdruck ist .nicht zu start! -- so würde es traurig damit beschaffen sein.

Was Halters Bedeutung als Dichter betrifft, so möchten wir ihn fast
höher stellen als Mörikoser. Haller wird in der Geschichte der deutschen Dicht¬
kunst eine sehr hervorragende Stelle einnehmen. Die Periode seines poetischen
Wirkens war kurz: sein erstes Gedicht von Bedeutung: "die Alpen" ist von
1729 und mit 1736 ist sein Schaffen so gut wie abgeschlossen. Es war die¬
selbe Periode, in welcher Gottsched mit großem Erfolg die Grundsätze der
Wolf'schen Denkart auf das Gebiet der Redekunst und der Poesie anwandte^
indem er die letztere, wie^wir im vorigen Hest gezeigt, als eme Untergattung
der ersteren betrachtete. ,

Die zweite schlesische Schule hatte sich bemüht, die Sprache der Poesie
über die Prosa zu erhöhn; da es ihr aber an wahrem Inhalt des Herzens
Und an ernster Bildung fehlte, war sie über diesem Bemühn >u Schwulst und
M sinnlose Phrasen verfallen. Um diesen Fehler zu vermeiden und in dein
Bestreben, eine correcte hochdeutsche Sprache nach der Art des akademischen
Französisch herzustellen, verlangte Gottsched, daß die Gesetze der Prosa auch
tur die Poesie gelten sollten. Er verfuhr darin ganz im Sinn seines Lehrers
Wolf, der die Empfindungen und sinnlichen Anschauungen für "unklare Be>
Misse" hielt, und an die Kunst wie an die Wissenschaft die Forderung stellte,
du'in unklaren Gedanken in klare und deutliche zu übersetzen.

Haller dagegen blieb der alten Ueberzeugung treu, daß die Poesie und
ucuncntlich die poetische Sprache etwas Höheres sein müsse als die Prosa,
^er er wählte ein anderes Mittel als die Schlesien statt die Phantasie von
dem Gesetz des Gedankens zu entbinden, suchte er den Gedanken so zusammen¬
zudrängen, daß er den Leser zu einer Selbstthätigkeit nöthigte, im gewissen
Sinn wie ein Räthsel, dassen Auflösung überrascht, aber doch als nothwendig
^'kannt wird. Der Unterschied seiner poetischen Sprache von seiner prosaischen
bchkht hauptsächlich in der Auslassung der Mittelglieder. Uebrigens aber soll


deo Ruhm eines Bernouilli, eines Euler wird bleiben, wenn man nicht
mehr weis;, daß Schweizer gestritten haben." — Eine solche Aeußerung, die
in heuer Zeit keineswegs vereinzelt dasteht, lehrt uns, ein wie großes Verdienst
sich Johannes Müller nicht blos um die Schweiz, sondern um unsre ganze
historische Auffassung erworben hat.

Was Mörikofer über die andern Seiten Hallers sagt, genügt nicht; am
meisten h.at uns in Erstannen gesetzt, was er S. «3 über Hallers Tagebuch
bemerkt; er kann dasselbe unmöglich vor Augen gehabt haben, denn das Meiste
ist unrichtig. Doch können wir diesen Punkt übcrgehlt, da wir vor kurzer Zeit
den Lesern der Grenzboten einen Auszug aus diesem Tagebuch gegeben haben.
Wenn das Christenthum keine bessern Empfehlungen hätte, als diese uuglück-
leligen Grübeleien., in denen 'ein stolzer Geist mit seiner Hypochondrie coquettirt
-~ der Ausdruck ist .nicht zu start! — so würde es traurig damit beschaffen sein.

Was Halters Bedeutung als Dichter betrifft, so möchten wir ihn fast
höher stellen als Mörikoser. Haller wird in der Geschichte der deutschen Dicht¬
kunst eine sehr hervorragende Stelle einnehmen. Die Periode seines poetischen
Wirkens war kurz: sein erstes Gedicht von Bedeutung: „die Alpen" ist von
1729 und mit 1736 ist sein Schaffen so gut wie abgeschlossen. Es war die¬
selbe Periode, in welcher Gottsched mit großem Erfolg die Grundsätze der
Wolf'schen Denkart auf das Gebiet der Redekunst und der Poesie anwandte^
indem er die letztere, wie^wir im vorigen Hest gezeigt, als eme Untergattung
der ersteren betrachtete. ,

Die zweite schlesische Schule hatte sich bemüht, die Sprache der Poesie
über die Prosa zu erhöhn; da es ihr aber an wahrem Inhalt des Herzens
Und an ernster Bildung fehlte, war sie über diesem Bemühn >u Schwulst und
M sinnlose Phrasen verfallen. Um diesen Fehler zu vermeiden und in dein
Bestreben, eine correcte hochdeutsche Sprache nach der Art des akademischen
Französisch herzustellen, verlangte Gottsched, daß die Gesetze der Prosa auch
tur die Poesie gelten sollten. Er verfuhr darin ganz im Sinn seines Lehrers
Wolf, der die Empfindungen und sinnlichen Anschauungen für „unklare Be>
Misse" hielt, und an die Kunst wie an die Wissenschaft die Forderung stellte,
du'in unklaren Gedanken in klare und deutliche zu übersetzen.

Haller dagegen blieb der alten Ueberzeugung treu, daß die Poesie und
ucuncntlich die poetische Sprache etwas Höheres sein müsse als die Prosa,
^er er wählte ein anderes Mittel als die Schlesien statt die Phantasie von
dem Gesetz des Gedankens zu entbinden, suchte er den Gedanken so zusammen¬
zudrängen, daß er den Leser zu einer Selbstthätigkeit nöthigte, im gewissen
Sinn wie ein Räthsel, dassen Auflösung überrascht, aber doch als nothwendig
^'kannt wird. Der Unterschied seiner poetischen Sprache von seiner prosaischen
bchkht hauptsächlich in der Auslassung der Mittelglieder. Uebrigens aber soll


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/279>, abgerufen am 24.08.2024.