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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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hat, abgesehn von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, sich praktisch nicht blos an
dem öffentlichen Leben Preußens, sondern auch an dem Communallebcn Berlins
betheiligt. Einen Mann von seinem Wissen und seinem Talent würden wir
unter allen Umständen gern im Parlament sehen; so wie wir unter allen Um¬
ständen wünschen, auch Herrn Ger lach darin zu sehn. ' Aber ebenso leb¬
haft wünschen wir, daß es sich endlich herausstellen möge, welche Partei Ver¬
anlassung hat. ihn zu wählen. Nach den Orten zu urtheilen, wo seine" be¬
sonders gedacht wird, sollte man meinen, es sei die demokratische Partei;
aus seiner neulichen Rede dagegen über das Königthum, welche die Natio¬
nalzeitung mittheilt, würden wir eher vermuthen, er werde einmal neben
Stahl und Gerlach sitzen. Einige Punkte aus dieser Rede wollen wir hervor¬
heben?

Die drei, vorhin genannten Abgeordneten haben eine Reform der deutschen
Bundesverfassung für jetzt darum für unnöthig erklärt, weil das deutsche
Nationalgefühl gar wol die Stelle der Regierungen vertreten könne. Herr
Gneist ist darin sehr verschiedener Ansicht -- Nationalgefühl und Public
Opinion wird doch wohl auf ungefähr dasselbe herauskommen. -- Mit großer
Beredsamkeit schildert er die Verkehrtheit, die darin liegt, den Staat durch
Public Opinion regieren zu wollen, d. h. durch das Publicum, welches jeden
Morgen zum Kaffee seine Zeitung liest und ans derselben erfährt, welche
Stichwörter die gangbaren sind. Was er darüber sagt, ist ganz aus un¬
serem Herzen gesprochen, oder vielmehr, wir haben es selber schon viele
Male gesagt. Aber in seinen Schlußfolgerungen unterscheidet er sich wesentlich
von uns.

Auch wir haben die demokratische Theorie der Volkssouveränetät stets für
eine Thorheit gehalten. Das Nationalgefühl, die öffentliche Meinung u. s. w.
'se unter allen denkbaren Substanzen am wenigsten dazu geeignet, den Staat
ZU regieren, d. h. die Souveränetät auszuüben. Aber wir sind nie gemeint
"/Wesen. die Berechtigung dieses geistigen Factors im Staatsleben zu bestreiten.
Public Opinion ist nicht immer mächtig, sie schläft zuweilen. sie ist noch
häufiger verwirrt; aber es gibt Augenblicke, wo sie wahrhaft productiv wird,
und es gibt nur wenig Augenblicke, wo sie nicht wenigstens ablehnend sich
"ußerte. Public Opinion hat 1813 Ungeheures geleistet; sie hat in den
traurigen Jahren der Reaction wenigstens das Unerträglichste unmöglich ge¬
wacht. Sie ist ihrer Natur nach formlos, aber sie ist nicht ein Nichts, sondern
"n Etwas, und unter Umstünden sehr viel. Nach unserer Ansicht ist die Auf¬
gabe des Staats, Public Opinion zu organisiren und zugleich zu erziehen.
Jenseit des Rheins wohnt ein Mann. der. obgleich kein Gothaner. kein Con-
st'tutioneller. kein "Eigentlicher", diesen Satz sehr wohl zu beherzigen weiß.
Nach unserer Theorie ist zwar nicht das einzige, aber das einfachste und


hat, abgesehn von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, sich praktisch nicht blos an
dem öffentlichen Leben Preußens, sondern auch an dem Communallebcn Berlins
betheiligt. Einen Mann von seinem Wissen und seinem Talent würden wir
unter allen Umständen gern im Parlament sehen; so wie wir unter allen Um¬
ständen wünschen, auch Herrn Ger lach darin zu sehn. ' Aber ebenso leb¬
haft wünschen wir, daß es sich endlich herausstellen möge, welche Partei Ver¬
anlassung hat. ihn zu wählen. Nach den Orten zu urtheilen, wo seine» be¬
sonders gedacht wird, sollte man meinen, es sei die demokratische Partei;
aus seiner neulichen Rede dagegen über das Königthum, welche die Natio¬
nalzeitung mittheilt, würden wir eher vermuthen, er werde einmal neben
Stahl und Gerlach sitzen. Einige Punkte aus dieser Rede wollen wir hervor¬
heben?

Die drei, vorhin genannten Abgeordneten haben eine Reform der deutschen
Bundesverfassung für jetzt darum für unnöthig erklärt, weil das deutsche
Nationalgefühl gar wol die Stelle der Regierungen vertreten könne. Herr
Gneist ist darin sehr verschiedener Ansicht — Nationalgefühl und Public
Opinion wird doch wohl auf ungefähr dasselbe herauskommen. — Mit großer
Beredsamkeit schildert er die Verkehrtheit, die darin liegt, den Staat durch
Public Opinion regieren zu wollen, d. h. durch das Publicum, welches jeden
Morgen zum Kaffee seine Zeitung liest und ans derselben erfährt, welche
Stichwörter die gangbaren sind. Was er darüber sagt, ist ganz aus un¬
serem Herzen gesprochen, oder vielmehr, wir haben es selber schon viele
Male gesagt. Aber in seinen Schlußfolgerungen unterscheidet er sich wesentlich
von uns.

Auch wir haben die demokratische Theorie der Volkssouveränetät stets für
eine Thorheit gehalten. Das Nationalgefühl, die öffentliche Meinung u. s. w.
'se unter allen denkbaren Substanzen am wenigsten dazu geeignet, den Staat
ZU regieren, d. h. die Souveränetät auszuüben. Aber wir sind nie gemeint
«/Wesen. die Berechtigung dieses geistigen Factors im Staatsleben zu bestreiten.
Public Opinion ist nicht immer mächtig, sie schläft zuweilen. sie ist noch
häufiger verwirrt; aber es gibt Augenblicke, wo sie wahrhaft productiv wird,
und es gibt nur wenig Augenblicke, wo sie nicht wenigstens ablehnend sich
«ußerte. Public Opinion hat 1813 Ungeheures geleistet; sie hat in den
traurigen Jahren der Reaction wenigstens das Unerträglichste unmöglich ge¬
wacht. Sie ist ihrer Natur nach formlos, aber sie ist nicht ein Nichts, sondern
"n Etwas, und unter Umstünden sehr viel. Nach unserer Ansicht ist die Auf¬
gabe des Staats, Public Opinion zu organisiren und zugleich zu erziehen.
Jenseit des Rheins wohnt ein Mann. der. obgleich kein Gothaner. kein Con-
st'tutioneller. kein „Eigentlicher", diesen Satz sehr wohl zu beherzigen weiß.
Nach unserer Theorie ist zwar nicht das einzige, aber das einfachste und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/199>, abgerufen am 25.08.2024.