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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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sich in die Verfassung zu seyen, dem den englischen Einflüssen zuneigenden Groß-
vezier einen energischen Krieg zu machen. Daß man aber in Paris ein be¬
sonderes Verlangen darnach haben sollte, solchen zum Ausbruch kommen zu
lassen, muß sehr bezweifelt werden. Als Lord Stratford von Constantinopel
abberufen wurde und damit seine langjährige und glanzvolle diplomatische
Carriere endete, geschah dieser Schritt seitens der britischen Regierung, allem
Anschein nach, auf Grund eines Abkommens mit Frankreich, und um eine
einige französisch-englische Politik im Orient zu ermöglichen. Wenn England
das große Opfer brachte, einen seiner geschicktesten und hier im Osten ohne
Zweifel das meiste Ansehen genießenden Unterhändler bei Seite zu schieben,
so geschah es jedenfalls nicht, ohne daß Frankreich auf demselben Puncte sich
zu einer Gegenleistung verpflichtete. Dieselbe bestand, wie man annehmen
darf, in sehr bestimmten Weisungen an den damaligen Ambassadeur Herrn
Thouvenel, sich dem englischen Botschafter gegenüber gefügig und nachgiebig
zu erweisen, und man hat allen Grund, anzunehmen, daß diese Jnstructionen sich
auf Herrn von Lavalette. seinen Nachfolger, übertragen haben. Diese Ver¬
hältnisse eben begründen die Garantie für Mehemmed Kiprisli Pascha, daß
seine Stellung von fremdmächtlicher Seite nicht angefochten werden wird.
Im Serail und dem in diesem vorherrschenden Einfluß Risa Paschas gegenüber
besitzt er allerdings nicht dieselbe Gewähr; aber die von dorther drohende
Gefahr ist durch die nicht abzuleugnende Verminderung von Nisas Ansehen,
gegenüber der europäischen Diplomatie und durch manche andere Umstände
wesentlich reduzirt worden. Wir meinen eben darum mit Recht an eine lange
Dauer des heutigen Vezierats, und in Folge dessen an eine der Pforte günstige,
nächste Zukunft glauben zu können, wenn nicht Verhältnisse ganz unberechen¬
barer Art eintreten, und von denen wir fürchten, daß sie an die Ereignisse
anknüpfen dürften, die in Venetien im kommenden Frühjahr ihren räum¬
lichen Mittelpunkt finden sollen.

Man rechnet darauf, daß im Monat März des kommenden Jahres ein
bedeutender Theil vom Betrage des türkischen Urlebens hier eingetroffen
sein wird. Um die Summen, welche alsdann zur Hand sein werden, wirklich
im bessern Sinne nutzbar zu machen, wird viel darauf ankommen, daß die
Neorgnnisativnspläne. mit denen der Großvezier sich beschäftigt, unmittelbar
ins Leben treten können. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um einen
förmlichen Neubau des türkischen Staats, um eine Umwandlung der Regierungs-
maschinene, der Verwaltung des Heeres und der Flotte, um Anlage von
Chausseen und gangbaren Landwegen, von Kanälen, von Schulen, um
eins Reorganisation des Abgabenwesens u. s. w. Ob die Türkei lebensfähig
ist und als ein auf eigenen Füßen stehender Staat in der europäischen Staaten-
samilie eine dauernde Stelle finden kann, muß recht eigentlich erst durch


sich in die Verfassung zu seyen, dem den englischen Einflüssen zuneigenden Groß-
vezier einen energischen Krieg zu machen. Daß man aber in Paris ein be¬
sonderes Verlangen darnach haben sollte, solchen zum Ausbruch kommen zu
lassen, muß sehr bezweifelt werden. Als Lord Stratford von Constantinopel
abberufen wurde und damit seine langjährige und glanzvolle diplomatische
Carriere endete, geschah dieser Schritt seitens der britischen Regierung, allem
Anschein nach, auf Grund eines Abkommens mit Frankreich, und um eine
einige französisch-englische Politik im Orient zu ermöglichen. Wenn England
das große Opfer brachte, einen seiner geschicktesten und hier im Osten ohne
Zweifel das meiste Ansehen genießenden Unterhändler bei Seite zu schieben,
so geschah es jedenfalls nicht, ohne daß Frankreich auf demselben Puncte sich
zu einer Gegenleistung verpflichtete. Dieselbe bestand, wie man annehmen
darf, in sehr bestimmten Weisungen an den damaligen Ambassadeur Herrn
Thouvenel, sich dem englischen Botschafter gegenüber gefügig und nachgiebig
zu erweisen, und man hat allen Grund, anzunehmen, daß diese Jnstructionen sich
auf Herrn von Lavalette. seinen Nachfolger, übertragen haben. Diese Ver¬
hältnisse eben begründen die Garantie für Mehemmed Kiprisli Pascha, daß
seine Stellung von fremdmächtlicher Seite nicht angefochten werden wird.
Im Serail und dem in diesem vorherrschenden Einfluß Risa Paschas gegenüber
besitzt er allerdings nicht dieselbe Gewähr; aber die von dorther drohende
Gefahr ist durch die nicht abzuleugnende Verminderung von Nisas Ansehen,
gegenüber der europäischen Diplomatie und durch manche andere Umstände
wesentlich reduzirt worden. Wir meinen eben darum mit Recht an eine lange
Dauer des heutigen Vezierats, und in Folge dessen an eine der Pforte günstige,
nächste Zukunft glauben zu können, wenn nicht Verhältnisse ganz unberechen¬
barer Art eintreten, und von denen wir fürchten, daß sie an die Ereignisse
anknüpfen dürften, die in Venetien im kommenden Frühjahr ihren räum¬
lichen Mittelpunkt finden sollen.

Man rechnet darauf, daß im Monat März des kommenden Jahres ein
bedeutender Theil vom Betrage des türkischen Urlebens hier eingetroffen
sein wird. Um die Summen, welche alsdann zur Hand sein werden, wirklich
im bessern Sinne nutzbar zu machen, wird viel darauf ankommen, daß die
Neorgnnisativnspläne. mit denen der Großvezier sich beschäftigt, unmittelbar
ins Leben treten können. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um einen
förmlichen Neubau des türkischen Staats, um eine Umwandlung der Regierungs-
maschinene, der Verwaltung des Heeres und der Flotte, um Anlage von
Chausseen und gangbaren Landwegen, von Kanälen, von Schulen, um
eins Reorganisation des Abgabenwesens u. s. w. Ob die Türkei lebensfähig
ist und als ein auf eigenen Füßen stehender Staat in der europäischen Staaten-
samilie eine dauernde Stelle finden kann, muß recht eigentlich erst durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/146>, abgerufen am 26.08.2024.